Blinde und Sehende gemeinsam auf Reisen

Mit Führband und Wanderschuhen

26:42 Minuten
Tour de Sens
Gemeinsamer Urlaub, gemeinsames Programm: eine Reisegruppe aus Blinden, Sehbehinderten und Sehenden. © Thomas Rathay
Von Sonja Heizmann · 28.08.2022
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Ein Reiseveranstalter bietet gemeinsamen Urlaub für Blinde, Sehbehinderte und Sehende an. Die Sehenden beschreiben dabei die Welt um sie herum. Sie erfahren im Gegenzug, wie Blinde Städte, Wanderwege und Wüsten erleben.
Der letzte Teilnehmer der Reisegruppe ist im Hotel in Werder angekommen. Hat gerade eingecheckt und seinen Zimmerschlüssel entgegengenommen. „Ich brauche immer sehr lange bis ich mich in Hotels orientiere, ich sage immer bis zur Abfahrt kenne ich mich dann hier aus.“ Klaus ist stark sehbehindert, fast komplett blind. Ein neuer Ort ist für ihn gewöhnungsbedürftig, besonders Hotels mit Fahrstühlen, verzweigten Gängen und verwinkelten Treppenhäusern.
Reiseleiter Gerion Nieto begleitet ihn zu seinem Zimmer. Gemeinsam mit anderen Sehbehinderten, Blinden und Sehenden macht Klaus Urlaub im Havelland. Kurz nach seiner Ankunft versammelt sich die Gruppe auf dem Marktplatz vor dem Hotel, stellt sich einander vor.
„Ich bin Marc, ich bin späterblindet und hab keinen Sehrest mehr, also kein Sehvermögen mehr, 2010 und hab aber 2012 dann die erste Reise mit tour de sens nach Portugal gemacht, an die Algarve, da habe ich gemerkt, was so geht und fand das ganz toll und ich freu mich auf die Woche.“
Ich bin Angelika, ich komme aus Stuttgart, das ist jetzt meine zweite Reise und ich komme mit als sehende Begleiterin.“
„Ich bin Uwe, ich wohne in Dresden, Sehrest keinen mehr, nur noch sehr, sehr starkes Licht und ich freu´mich aufs Abendessen.“
Tour de sens.
Tour de sens bietet Urlaub für Blinde, Sehbehinderte und Sehende an.© Thomas Rathay

Kulinarisch, taktil, kulturell

Uwe, Marc, Klaus, Angelika und die anderen acht Teilnehmer sind aus ganz Deutschland nach Werder gereist, verbringen hier gemeinsam fünf Tage.
Theresia Stötzler, die sich Lilli nennt, leitet die Gruppe. „Herzlich willkommen im Havelland. Wir haben ein schönes Programm: einiges zum Probieren, einiges zum Ertasten. Heute machen wir noch einen kleinen Spaziergang in Werder", erklärt sie.
"Morgen sind wir dann bei einem Weingut und dürfen dort Wein verkosten. Dann fahren wir auch natürlich nach Brandenburg an der Havel, der Wiege der Mark Brandenburg und fahren aber auch nach Potsdam und besuchen dann am Samstag eine Handweberei, ein sehr alteingesessenes Handwerksunternehmen hier. Und ich hoffe, dass alle auf ihre Kosten kommen, kulinarisch, taktil und kulturell. Ich jedenfalls freu´ mich sehr.“            
Bevor sich die Gruppe auf den Weg macht, um die Altstadtinsel von Werder zu erkunden, erklärt Lilli noch das Konzept. „Ein Sehender begleitet immer einen oder auch zwei Reisende, die Hilfe brauchen, also blind sind oder sehr wenig sehen. Berichtet dabei, was er wahrnimmt und erfährt im Gegenzug, was die Blinden und Sehbehinderten spüren, hören und riechen. Jeden Tag werden die Teams neu zusammengesetzt, damit es genug Abwechslung gibt und die Gruppe sich schnell kennenlernt.“Auf dem Tandem durch Thailand
Als sich alle zusammengefunden haben, werden noch sogenannte Führbändel verteilt. Die geknüpften Kordeln sind zu Ringen mit zehn Zentimeter Durchmesser zusammengenäht, Sehende und Blinde greifen jeweils ein Ende. So bleiben beide zusammen ohne die Bewegungsfreiheit des anderen zu sehr einzuschränken.
Angelika, die heute Fabian begleitet, beschreibt alles, was ihr auffällt - bunte Häuser, ausladende Eichen, alte Laternen. Die 58-Jährige war bereits bei einer Reise nach Bulgarien dabei, ist schon geübt darin, zu begleiten und genau zu beobachten. An Angelikas Seite: Fabian. Angstfrei und schnell geht er über den Platz. Er ist 44 und kam sehbehindert auf die Welt, als Teenager ist er vollständig erblindet. Das hält ihn nicht davon ab, viel unterwegs zu sein. Er macht gerne Wanderurlaube, war schon im Trentino in Norditalien und auf Teneriffa.

In Deutschland leben rund 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen. Das sind Schätzungen/Hochrechnungen, da blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland nicht gezählt werden. Die Zahlen beruhen auf Erhebungen der WHO. 

Ein Mensch ist sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt.

Ein Mensch ist hochgradig sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 5 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt. 

Die sehenden Begleiter sind dann mit einem Rucksack mit Karabinerhaken ausgestattet, erklärt Fabian. Wenn der Weg besonders schmal wird, kann das Führband eingehakt werden und der Blinde sich daran festhalten. Nächstes Jahr, wenn das Reisen hoffentlich wieder einfacher ist, will Fabian in die Highlands von Schottland und die Wüste Jordaniens.
Ein Führband, in das sich zwei Menschen eingehakt haben
Wenn der Weg besonders schmal wird, haken sich der Sehende und der Blinde im sogenannten Führband ein.© Thomas Rathay
Sein Mitreisender Uwe hat sogar schon eine achtwöchige Tandem-Tour durch Thailand gemacht, mit einem anderen Blinden und zwei sehenden Piloten, die die Räder gelenkt haben.
„Das ist eigentlich eine super gute Sache zu reisen als Blinder, weil man halt so unmittelbar direkt ist, ohne Fenster dazwischen oder im Auto oder Zug, man kann einfach mal sagen, oh, hier ist etwas Interessantes zum Abfühlen, dann dreht man halt kurz um und fährt zurück und stoppt da. Und die Leute waren dann halt auch interessiert, was macht ihr für eine Tour? Man kommt dann ins Gespräch über das Fahrrad, oh, das ist ein Tandem, das habe ich ja auch noch nie gesehen.“

Angstfrei und selbstsicher

Von Bangkok nach Singapur sind die vier auf den Tandems gefahren, erzählt Uwe, geschlafen haben sie im Zelt, mal am Meer, mal in einem Tempel. Blinde, die sich mehr zutrauen als so mancher Sehender, das hätte ich nicht erwartet.
Reiseleiterin Lilli sagt, die beiden seinen allerdings keine Ausnahme. „Dass die Leute angstfrei sind, das trifft auf einen Großteil unserer Mitreisenden zu. Im Allgemeinen ist mein Eindruck, wenn man schlecht sieht, man muss so ein gewisses Grundvertrauen in andere Leute haben und dass einem schon nichts passieren wird, ansonsten sitzt man zu Hause und die Leute lernen wir nicht kennen. Wer mit uns mitreist, hat eine gewisse Selbstsicherheit und ein Vertrauen in sich und in uns.“
Wie Connie, die in Jena eine eigene Physiotherapie-Praxis hat. Heute geht sie an der Seite ihre Freundes Dirk, stützt sich auf seinen rechten Arm. Connie sieht weniger als fünf Prozent, auch Dirk ist sehbehindert, allerdings nicht so stark wie Connie. Die beiden sind das einzige Paar in der Gruppe und waren schon oft mit tour de sens unterwegs.
Manchmal nimmt Connie dabei auch die Unterstützung sehender Mitreisender in Anspruch. „Wenn ich jetzt laufe, kann ich auf das links und rechts nicht achten und selbst wenn ich es gut könnte, würden mir bestimmte Sachen entgehen. Und durch die Beschreibungen bekommt man wirklich sehr vieles mit. Jeder sieht auch etwas anderes, deswegen ist es ganz gut, wenn man unterschiedliche Menschen kennenlernt, auch mal an einem anderen Tag mit jemand anderem laufen kann, weil man möglicherweise einmal mehr merkt, dass es auch das eigene Interesse weckt und am anderen Tag vielleicht nicht ganz so.“

"Ansonsten fehlt den Menschen nichts"

Neben Connie und Dirk gehen Uwe und Gaby. Die beiden versuchen noch sich aufeinander einzustimmen.
Gaby: „Wenn ich Dir zu viel erzähle, musst Du sagen halt den Mund.“
Uwe: „Mach ich, genau so werde ich es sagen.“
Gaby: „Das ist immer schwierig, der eine sagt, Du musst mir nicht jeden Backstein erzählen, der andere sagt, erzähl, erzähl.“
Zwei Menschen auf einem Wanderpfad
Wenn die Wege schwieriger werden, gehen Sehende am besten vornewg.© Thomas Rathay
Einzuschätzen, wie viele Details der Blinde hören möchte und wie viele Hinweise auf Hindernisse und Unebenheiten im Weg jeder braucht und wünscht, ist für die sehenden Mitreisenden gar nicht so leicht. Lilli gibt vor allem einen Tipp.
„Der Haupthinweis ist: Kommunizieren, dass man darüber spricht, was gebraucht wird. Weil für die eine Person ist es zu viel, für die andere ist es zu wenig. Die eine möchte jede kleine Stufe angesagt bekommen, und die andere kann das sehr gut abspüren und braucht das nicht so sehr, deswegen das Allererste ist immer erst mal Kommunikation, dass ich jemandem zugestehe, dass er oder sie sich frei entscheiden kann, dass ich ihr diese kognitive Leistung sozusagen zutraue. Und dass man nicht das Gefühl hat, die kann nichts, weil ja, der fehlt der Sehsinn, aber ansonsten fehlt den Menschen nichts.“

Die Kartoffeln liegen auf 9 Uhr

Ein paar Grundregeln gibt es trotzdem: Wenn es eng wird, den Blinden führen, also vorgehen, nicht vor sich her ins Ungewisse schieben. Natürlich ankündigen, wenn Treppen oder Bordsteine kommen, aber auch in welche Richtung sich eine Tür öffnet. Begriffe wie „hier“ oder „da drüben“ vermeiden, eine gute Orientierungshilfe ist das Ziffernblatt der Uhr. Zu sagen die Kirche steht auf 2 Uhr oder die Kartoffeln auf dem Teller liegen auf 9, das Gemüse auf 3 Uhr.
Die beiden Reiseführer haben die Gruppe mittlerweile an der Mühle und der neugotischen Kirche Werders vorbeigeführt und sind in eine schmale Gasse mit dem ältesten Fischerhaus der Stadt eingebogen. Etwas weiter oben, fast am Ende des Weges, bleiben sie stehen.
„Wir sind hier jetzt an einem Baum angekommen und Marc fragt ganz richtig, was ist das Besondere an dem Baum, warum sollten wir hier stehen bleiben? Ihr merkt ja, dass wir über Kopfsteinpflaster gegangen sind, das heißt, wir sind nicht in einem Garten und hier sind die Häuser sehr dicht, das ist eigentlich mehr wie eine Gasse, zu meiner Linken ist das Haus vier Meter entfernt, zu meiner Rechten zwei und trotzdem ist hier dieser Baum und der wächst quasi waagerecht aus dem Boden raus, ihr könnt das auch gerne gleich noch mal ertasten. Und das ist ein Birnbaum. Also man merkt einfach, wie aller Platz genutzt wurde, um Obstbäume zu pflanzen, unter anderem eben hier mitten in dieser Gasse.“
Werder ist nicht nur für seine schöne Lage, die Uferpromenade und die historische Altstadtinsel bekannt, über die schon Theodor Fontane schrieb, sondern auch für seinen Obstanbau, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Haupteinnahmequelle der Bewohner wurde. Und für sein Baumblütenfest, ein großes Volksfest, das auch heute noch ausgiebig gefeiert wird.

Blind sein als akustisches Erlebnis

Als die Gruppe auf dem Rückweg zum Hotel ist, erklärt Marc, wie er Werder erlebt. „Das, was ich tastend erfühlen kann, auch über den Stock, was ich jetzt hier im Gehen sinnlich wahrnehme, und auch hörend wahrnehme, Bäume beispielsweise, aber auch der Wind, wir sind ja gerade über die Brücke gelaufen, wenn ich dort den Wind spüre ist mir klar, ok, wir gehen jetzt hier über die Brücke unter der die Havel langfließt", erzählt er.
"Und da entsteht schon zusammen mit Beschreibungen, die ich bekomme, ein Bild in meinem Kopf dazu und das ergibt sich auch ein Stück weit aus meinen sehenden Erinnerungen, ob das mit der Realität übereinstimmt, das ist dann noch mal ein anderer Punkt. Aber es ist durchaus etwas, das ich mit Urlaubserlebnissen verbinden würde.“
Marc, 45 und seit zehn Jahren blind, lehrt an einer Universität und arbeitet dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seine visuelle Erinnerung hätte sich mit der Zeit verändert, sagt er. Ihm würden zum Beispiel weniger Bilder von Sonnenaufgängen zur Verfügung stehen als noch vor ein paar Jahren. Auch Bäume nimmt er jetzt anders wahr.
Marc erklärt das am Beispiel einer Linde. Der Sehende sieht eine große Baumkrone mit hellgrünen herzförmigen Blättern und hört zusätzlich den Wind, der sich darin verfängt und bei Regen, wie Tropfen darauf fallen.
„Blind ist da vor allem ein akustisches Erlebnis, das Rauschen, und ich gewinne ein Bild von diesem Baum, die Ausmaße seiner Krone, die Äste, die herausreichen, dadurch, dass entweder der Wind rauscht oder sich dieses fast orchestrierte Blätterwassertropfenprasseln, dort abbildet. Und so verändern sich sozusagen Bilder. Ich kann mir dann noch einmal bewusst versuchen, diesen Baum als grünen Baum mit grünen Blättern vorzustellen. Aber er ist im Wesentlichen ein Baum mit rauschenden und ja wasserprasselnden Blättern.“

Die mentale Karte im Kopf

Zurück im Hotel, zeigt Marc mir, wie er trotz kaum tastbarer Zimmernummer auf seinem Flur unter den vielen Türen die richtige findet. Er deutet auf eine Stelle unterhalb des Schlosses. „Ich habe mir hier, weil ich hab´ so kleine Kleber noch gehabt, hier unten drunter geklebt. Vielleicht siehst Du‘s, das ist nur ganz sanft zu fühlen, aber das ist an keiner anderen Tür und ich habe es hier so unmerkbar raufgeklebt, dass die Putzfrauen sich auch nicht wundern werden.“ 
Einmal im Hotelzimmer, ist es einfacher für Marc sich zurecht zu finden. „Was hilfreich ist, dass die Hotelzimmer in der Regel eigentlich ähnlich aufgebaut sind, es gibt irgendwo ein Bad in diesem Bad ist irgendwo eine Dusche, eine Toilette, ein Waschbecken und es gibt im Zimmer selbst ein Bett, einen Schreibtisch und manchmal auch einen Schrank, also es sind verschiedene Gegenstände vorhanden, die man auch erwarten kann, man muss nur noch mal prüfen wo sie sind.“
Auf einer Blinden-App auf seinem Smartphone hat Marc recherchiert, dass sein Hotelzimmer nach Westen ausgerichtet ist. Die App bestimmt über GPS seinen Standort und kann auch alle heute besuchten Orte, wie die Kirche, die Mühle und die Brücke, in Relation zum Hotel setzen. Entfernungen feststellen und Höhenunterschiede. Die App sagt ihm auch, ob zurückgelegte Wege kurvig oder eher gerade sind.
„Also, ich versuche auf so einer abstrakteren Ebene mit einer App erst mal so eine Art mentale Karte im Kopf zu bekommen, das ergibt sich immer auch nur ausschnittsweise und ich krieg das dann für mich selber auch noch mal besser zusammen, wenn wir dann beispielsweise, wie heute, bei der Heilig-Geist-Kirche waren.“ 

Ein Programm für möglichst viele Sinne

Während Marc erzählt, sitzen wir uns gegenüber. Eigentlich eine normale Gesprächssituation, gewöhnungsbedürftig ist nur, dass es keinen Blickkontakt zwischen uns gibt, seine trüben Augenlinsen keine Reaktion zeigen. Trotzdem ist Marc sehr präsent, sitzt besonders aufrecht da und hört genau zu. Das habe er sich antrainiert, auch für seine Arbeit an der Uni, sagt er, damit die Interaktion und der Inhalt des Gesprächs im Vordergrund stehen, nicht seine Blindheit.
In den nächsten Tagen ist die Gruppe mal in lauten Städten, mal in der weitläufigen Natur unterwegs. Immer ist das Programm so ausgerichtet, dass es möglichst viele Sinne anspricht. Die Reisenden laufen über Kopfsteinpflaster, Sand und Erde. Riechen im Kräutergarten an Salbei und Zitronenmelisse, probieren Sanddornsaft und Werderaner Ketchup, ertasten im Dom von Brandenburg mittelalterliche Grabplatten und im Park Sanssouci Marmor-Skulpturen.
Besonders eindrücklich ist der Besuch einer alten Handweberei, wo unterschiedliche Materialen, Stoffe und die traditionelle Webkunst gezeigt werden und der Besuch eines Weinbergs in Werder.

Dem Gefühl nach immer geradeaus

Der Weg zum Wachtelberg führt erst über eine belebte Einkaufsmeile, dann entlang einer stark befahrenen Straße. Heute begleite ich zum ersten Mal auf dieser Reise, eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben, einen Blinden: Uwe.
Die ganze Zeit schaue ich auf den Boden und achte auf den Verkehr. Jetzt auch noch die Umgebung zu beschreiben – unmöglich. Nicht, dass Uwe stolpert oder sogar angefahren wird, denke ich. Gleichzeitig weiß ich, dass zu viele Ansagen als bevormundend oder übergriffig empfunden werden können.
Uwe wirkt mit seinem Blindenstock so selbständig, dass ich mich langsam entspanne. Und irgendwann als es auf einer ruhigeren Nebenstraße eng wird, Uwe sogar vorausgehen lasse. Zielstrebig steuert Uwe auf einen geparkten Lieferwagen zu, geht dann aber doch knapp daran vorbei. Ich spüre das akustisch oder höre das, dass da was steht, das funktioniert aber nur bei größeren Objekten, wie Autos oder eine Wand, ein Haus, dann hört man, ah, ich laufe jetzt auf ein Hindernis zu, weil sich der Schall ändert.“
Uwe ist 44 und wurde als Achtjähriger von einem Motorrad angefahren. Durch den Unfall ist er erblindet. Sich auch ohne Augenlicht zurecht zu finden, hat er vor Jahren in der Blindenschule gelernt. Trotzdem bin ich erleichtert als wir fast am Ziel sind und Uwe wieder an die Seite des Reiseleiters wechselt.
Vor uns liegt jetzt eine geschlängelte, relativ steile schmale Straße. Angelika und Margit, die einzige Frau unter den Blinden, sind schon auf dem Weg nach oben. Dass die Straße mal eine Biegung nach links, mal nach rechts macht, spürt Margit nicht. Solange es keine Kurven sind, bei denen Blinde sich richtig neigen müssen, haben sie das Gefühl, es geht weiter geradeaus.  

Die Begleiterin nimmt mehr wahr

„So, ich denke wir sind da, man sieht Weinreben. Also eigentlich sind das eher Weinfelder, da ist rechts ein bisschen tiefer eine riesige Fläche mit Weinreben, aber nicht auf dem Berg, wie bei uns, nicht an einem Hang, sondern auf einer großen Fläche.“
Margit und Angelika setzen sich an einen der beiden Tische unter einer Pergola, die von Wein und dunklen Trauben umrankt ist. Auch wenn sie ständig berichtet, was sie sieht, immer aufmerksam sein muss, anstrengend findet Angelika das nicht. Durch das genaue Beobachten, nimmt sie sogar mehr wahr als sonst, sagt sie, außerdem mag sie das abwechslungsreiche Programm und die Gesellschaft.
Tour de Sens.
Neben den Beobachtungen der Sehenden, hilft auch das Ertasten, um sich die Umgebung zu erschließen.© Thomas Rathay
„Ich verreise ohnehin immer alleine oder eben in einer Gruppe. Und da kann ich mich ja irgendwo nützlich machen. Und wenn ich mitreise, bedeutet es, dass ein blinder Mensch mehr mitreisen kann. Und man muss schon sagen, natürlich ist es auch ein schönes Gefühl, gebraucht zu werden.“
Als Sehende zahlt Angelika circa 50 Prozent weniger für diese Reise als Menschen, die Hilfe brauchen. Reisen bedeutet für sie neue Orte besuchen, eine andere Welt kennenlernen, das sei auf dieser Reise auch innerhalb der Gruppe möglich. „Man erfährt ja auch manches über deren Lebensumstände und viele leben allein und ja, bewältigen ihren Haushalt, waschen ihre Wäsche, kochen, gehen alleine einkaufen. Und da kann ich einfach nur sagen: Hut ab! Und man besinnt sich dann wieder auf das Wesentliche.“
Auch Uwe und Marc leben alleine. Umso wichtiger ist es den beiden auf dieser Reise den Alltag hinter sich zu lassen. „Mal woanders schlafen, mal was Anderes essen, ich fahr auch gerne Zug, für mich ist die eigentliche Anreise und Abreise auch Teil der Reise.“ 
„Ich selbst sag für mich, ich kann hier tatsächlich verantwortungslos ein paar Tage unterwegs sein, weil ich eben keine Verantwortung übernehmen muss, das macht schon einen Entspannungswert aus.“
Dass die Gruppe relativ bunt gemischt ist, die sehenden Mitreisenden ein paar Jahre älter sind als sie, stört Uwe und Marc nicht. Sie wissen es zu schätzen, dass sie Urlaub machen können ohne auf Familie und Freunde angewiesen zu sein. Und dabei an Orte kommen, die für sie alleine nicht so einfach zugänglich sind. Das können Mangrovenwälder in Costa Rica sein – oder eben der Wachtelberg in Werder.

Eine Sehbehinderte schießt Erinnerungsfotos

Aufmerksam hört die Gruppe zu als die Mitarbeiterin des Weinguts von Reblagen und der langen Geschichte des Weinanbaus in Werder berichtet. Fabian kneift dabei immer wieder die Augen zu und versichert sich, dass sein zusammengeklappter Blindenstock noch auf dem Tisch liegt. Connie steht ab und zu auf, macht Fotos von der Landschaft. Dafür hält sie ihr Smartphone ganz nah ans Auge. Umrisse und Farben sieht sie abhängig von den vorherrschenden Lichtverhältnissen manchmal noch.
Um die Rebsorten kennenzulernen und die Erntebedingungen besser zu verstehen, wird die Gruppe heute auch in das Anbaugebiet geführt, fasst winzige Weinblüten an und kostet Trauben. Fabian ist nicht so begeistert, findet die Trauben zu sauer, er reicht sie an Marc weiter, der Schwierigkeiten hat die kleinen Beeren vom Stil zu trennen. Einfacher ist es die festen Blätter und die Reben abzutasten. „Wir fangen mal unten an. Du hast hier diesen kleinen Stock, der stützt, das ist sehr viel Rinde, dieser Stock der stützt. Noch so ein Knubbel, junge Zweige und Blätter.“
Zum Schluss folgt der Höhepunkt des Wachtelberg-Besuchs – die Weinprobe.
Einen Secco und vier Weine testest die Gruppe bevor sie wieder aufbricht. Den Weg zurück in die Altstadt von Werder meistern trotz Weinprobe alle ziemlich gut. Nach dem Mittagessen im Fischrestaurant, steht noch eine Bootsfahrt auf dem Programm. Leider regnet es. Marc und Fabian lassen sich trotzdem auf das ungeschützte Deck bringen, sie wollen den Wind spüren, das Wasser und die Luft riechen.
Der Rest der Gruppe bleibt im Trockenen. Zeit die Tastmodelle von Werder und Umgebung zu zeigen, die Gerion mit dem 3D-Drucker produziert hat. Das Modell vor Uwe ist rund und nicht größer als eine Single-Schallplatte. Auf der Oberfläche befinden sich unterschiedliche Erhebungen, die Land und Wasser voneinander trennen. Der Standort des Hotels der Reisegruppe steht zusätzlich wie ein kleiner runder Stempel hervor.
Uwe fährt mit den Fingern über die unterschiedlichen Flächen, spreizt Daumen und Zeigefinger, versucht ein Gefühl für Proportionen und Abstände zu bekommen und die Orte, die sie bisher besucht haben, einzuordnen. „Vorher hatte ich gedacht, das ist ein Fluss, der macht eine Biegung und der ist vielleicht hier und da mal ein bisschen breiter und das nennt man dann See, aber dass es so verzweigt ist und so weitläufig, bis in Ecken, wo man das Gefühl hat, das hat mit der Havel eigentlich gar nichts mehr zu tun, das finde ich erstaunlich.“ 

Faszination Autobahnbrücke

Auf der Bootsfahrt erzählt Uwe Gerion, dass er gerne mal nach St. Petersburg oder Warschau fahren würde oder auch nach Spanien, wo der Reiseleiter herkommt. Konkrete Pläne für seinen nächsten Urlaub hat Uwe noch nicht, "aber wenn tour de sens eine Dating-Fahrt anbieten würde, da würde ich dann schon mal mitfahren, die müssten dann aber schon in meinem Alter sein."
Marc steht immer noch auf Deck. Schon eine ganze Weile ist er der Einzige hier oben. Der Regen ist noch stärker geworden, hat Marcs Schuhe und Kleidung durchnässt und tropft vom Kapuzenrand in sein Gesicht. Jetzt fahren wir auch noch unter einer Autobahnbrücke hindurch. Aber Marc stört das alles nicht, im Gegenteil.
„Wir fahren unter dieser Autobahnbrücke vorbei und man kriegt das dann mit, den Hall, wie breit das einfach ist und, dass über einem genau jetzt diese Autos lang fahren. Das finde ich eigentlich sehr faszinierend. Möglicherweise sieht es gar nicht so schön aus, wenn man da durchfährt und es sich nur ansieht, aber es ist schon ein kleines Spektakel, finde ich.“
Die hier gezeigten Fotos sind auf anderen tour de sens-Reisen entstanden.

Die Reportage wurde erstmals am 05.12.2021 gesendet.

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