Missbrauchsfall Emil Stehle

Ein Mantel des Schweigens

08:52 Minuten
Das Kreuz einer katholischen Kirche vor einem dunklen Abendhimmel
Ein Bischof gilt jahrelang als Wohltäter. Nach seinem Tod wird bekannt, dass er Frauen und Mädchen sexuell missbraucht hat. Der Fall in Ecuador steht erst am Anfang der Aufarbeitung. © picture alliance / dpa / Silas Stein
Von Mirjana Jandik · 28.08.2022
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In Ecuador wird der verstorbene Bischof Emil Stehle verehrt wie ein Heiliger. Dabei hat er mehrere Frauen missbraucht und anderen Missbrauchstätern zur Flucht nach Lateinamerika verholfen. Davon will man dort aber wenig wissen.
Fährt man mit dem Überlandbus nach Santo Domingo, kommt man kurz vor dem Busbahnhof an einen großen Kreisel. Hier wird man begrüßt von einer sechs Meter hohen Statue von Emilio Lorenzo Stehle, wie er in Ecuador genannt wird.
Vor zwanzig Jahren verließ Stehle Santo Domingo, vor fünf Jahren ist er gestorben – doch hier erinnert man sich noch immer an ihn wie an einen Heiligen.

Der Bischof galt als "guter Hirte"

"Was jetzt ans Licht gekommen ist, hat uns in Santo Domingo bestürzt", sagt Gonzalo Yépez Palma. Denn seit einigen Monaten erhärten sich Anschuldigungen gegen Stehle, über viele Jahre Frauen sexuell missbraucht zu haben, darunter mehrere Minderjährige.
Adveniat und die Deutsche Bischofskonferenz hatten daraufhin die Rechtsanwältin Bettina Janssen mit der Untersuchung des Falls beauftragt. Die nun veröffentlichte Studie belegt die Anschuldigungen. Nicht nur hat Emil Stehle an verschiedenen Wirkungsorten Frauen missbraucht. Er hat auch aktiv geholfen, die Taten von mehreren europäischen Priestern zu verschleiern und verhalf einigen von ihnen zur Flucht vor der Justiz.
Heute ist der in der Schweiz geborene Bertram Wick Enzler Bischof von Santo Domingo. Er sagt: "Natürlich war ich irgendwie bestürzt. Mein Bild, das ich von Monseñor Emil Stehle hatte, war ein sehr ausgezeichnetes. Das Bild eines Hirten, der alles gibt, um für die Menschen da zu sein."

Eine Schule trägt seinen Namen

Einer, der Stehle gut kannte, ist der Journalist und Lokalpolitiker Gonzalo Yépez Palma. Auf seinen verstorbenen Freund lässt er nichts kommen:
"Als eine Person, die Bischof Emilio Stehle nahe stand, kann ich von seinen guten Taten hier in Santo Domingo berichten. Gute Taten nicht nur im religiösen, sondern auch im zivilen Sinne, was eigentlich Aufgabe der nationalen und lokalen Regierungen gewesen wäre. Zum Beispiel: Brücken und Kanalisation in den ländlichen Gemeinden der indigenen Tsáchilas, die Gründung der katholischen Universität, des Mädchenheims Valle Feliz und des Jungenheims Hogar de Jesús."
Die Verehrung für Stehle geht weit in Santo Domingo. Yépez Palma erzählt: "Es gibt sogar eine Straße, die nach ihm benannt ist, und eine Statue an einer sehr wichtigen Straßenkreuzung. Auch eine Schule trägt seinen Namen: die Bildungseinrichtung Emilio Lorenzo Stehle."

"Für mich war er wichtig"

Die Stehle-Schule wurde vor vier Jahren gegründet, seit zwei Jahren leitet sie Mercedes García Espinosa: "Wir halten sein Andenken immer hoch", sagt sie. "Die Nachricht ist an uns vorbeigezogen, ohne, dass irgendetwas hängengeblieben wäre, weder bei den Eltern noch bei den Schülern oder Dozenten."
An der Wand hängt sogar ein großes Foto von Stehle. "Irgendwann kam jemand von einer Schulbehörde und hat mich gefragt, ob ich das Foto nicht abnehmen wolle", erzählt die Schulleiterin. "Warum sollte ich, habe ich geantwortet. Ich habe nichts gegen ihn, und für mich war er sehr wichtig in meinem Leben, in meiner Ausbildung."
Als sie 18 Jahre alt war, habe sie als Musiklehrerin im Pädagogischen Institut Monseñor Emilio Lorenzo Stehle gearbeitet, sagt Mercedes García Espinosa. "Dort habe ich den Monseñor kennengelernt, und er war ein herzensguter Mensch, sehr freundlich und charismatisch."

Stehles Taten sind in Ecuador kein Thema

Deswegen will sie sich mit dem von ihm begangenen sexuellen Missbrauch lieber nicht so genau beschäftigen: "Ich weiß gar nicht so genau, was ihm vorgeworfen wird, weil ich nie die schlechten Seiten der Menschen sehe. Das interessiert mich also gar nicht besonders. Ich weiß ja, wie Monseñor Stehle war, deswegen sind mir die aktuellen Nachrichten nicht im Gedächtnis geblieben. Und ich glaube, vielen Leuten ging es so."
Dass die Nachricht keinen Wirbel machte, liegt aber auch daran, dass ecuadorianische Medien kaum darüber berichteten. Ramón Chérrez, der in einem alteingesessenen Familienunternehmen in Santo Domingo arbeitet, hat aus internationalen Medien von den Untersuchungen im Fall Stehle erfahren: "Es überrascht mich und es macht mich wütend, dass die Medien hier kaum darüber berichtet haben."
In Santo Domingo meinen einige, die Taten Emil Stehles gehörten der Vergangenheit an und hätten mit seinem Wirken in Santo Domingo nichts zu tun. Stehle war vorher Priester in Kolumbien, Adveniat-Geschäftsführer in Essen und Weihbischof in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Außerdem leitete er von 1972 bis 1984 die Koordinierungsstelle Fidei Donum für deutsche Priester in Lateinamerika.

Fluchthelfer für Missbrauchstäter

Aus den nun veröffentlichten Untersuchungen geht hervor, dass er in den 1970er-Jahren drei Priestern dabei geholfen hat, sich durch eine Flucht in lateinamerikanische Bistümer in Deutschland anhängigen Strafverfahren zu entziehen.
"Wir haben hier einen anderen Menschen kennengelernt als den, von dem es heißt, dass er vielen Frauen in seiner Heimat Leid angetan hat", sagt Mercedes García Espinosa. "Hier war er ein ganz anderer Mensch, und ich denke, dass wir alle eine zweite Chance verdient haben. Ich kann mir vorstellen, dass der Monseñor vielleicht hierherkam, um sich zu ändern, um Gutes für andere zu tun."

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Schaut man in die Untersuchung, gibt es jedoch zumindest Hinweise, dass Stehle auch noch während seiner Zeit in Santo Domingo übergriffiges Verhalten an den Tag legte und straffälligen Priestern geholfen haben könnte. Dazu sind jedoch weitere Untersuchungen nötig.
Ramón Chérrez war noch ein Kind, als Emil Stehle Ecuador verließ, aber nach den aktuellen Enthüllungen hat er sich ein wenig umgehört: "Scheinbar haben einige wichtige und einflussreiche Leute der Stadt damals gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte, dass er aus einem bestimmten Grund in Santo Domingo war. Es gab Gerüchte. Man erzählte sich, dass ein ganz bestimmtes Mädchen den Monseñor immer besucht habe. Und ich denke, das war nicht zum Beten."

Keine Aufarbeitung in Sicht

Das Schweigen hält sich bis heute, von Schuld und Aufarbeitung, von konkreten Konsequenzen will in Santo Domingo kaum jemand etwas wissen. „Natürlich leiden wir darunter, dass das mit Brüdern passiert ist, dass sie Missbrauch irgendwie verübt haben oder auch gedeckt haben, aus irgendwelchen Gründen, die man schon verstehen kann, die aber nicht korrekt sind", kommentiert Wick Enzler, der aktuelle Bischof von Santo Domingo.
"Aber wir dürfen wahrnehmen, dass wir fehlerhafte Menschen sind, dass wir aufeinander aufpassen müssen und dass wir alles tun müssen, was solche Missbräuche künftig vermeiden kann", so der Bischof.
"Der Himmel selber muss die Kirche schützen vor uns, den eigenen Menschen, und wir können einfach nur demütig bleiben und versuchen, keine Steine auf andere zu werfen, sondern alle unsere Schwächen gegenwärtig zu haben und sie einzugestehen. Und da, wo sie gefährlich sind, muss man besonders auf der Hut sein und Vorsichtsmaßnahmen walten lassen."

Kritisches katholisches Netzwerk

Und García Espinosa von der Stehle-Schule meint: "Als Bildungseinrichtung haben wir absolut nichts damit zu tun, wir ziehen daraus keine Konsequenzen."
Allerdings gibt es in Ecuador ein kritisches katholisches Netzwerk, das Red Ecuatoriana de Fe, das gerade erst angefangen hat, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Vielleicht wird es also in Zukunft doch noch eine Diskussion darüber geben, wie mit dem schwierigen Erbe Stehles umzugehen ist, eines Mannes, der nicht nur selbst des Missbrauchs schuldig geworden ist, sondern auch andere Täter gedeckt – und so vielleicht weitere Taten ermöglicht hat.

Informationen zum Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 - Bundesweit, kostenfrei und anonym  

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