Missbrauch und Kirche

Die Lernphase der Bischöfe ist vorbei

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Zwei ältere Brillenträger in weiß-gelben Gewändern nehmen im Freien an einem katholischen Gottesdienst teil.
Auf ihren Anfängerstatus beim Thema Missbrauch können sie sich nicht mehr herausreden: die Bischöfe Gebhard Fürst (links) und Georg Bätzing beim Katholikentag in Stuttgart. © picture alliance / dpa / Marijan Murat
Von Kirsten Dietrich · 29.05.2022
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Beim Katholikentag in Stuttgart gab es deutlich mehr Veranstaltungen zum Thema Missbrauch als früher. Trotzdem war die Diskussion schwierig, denn bei der Aufarbeitung sind nicht nur die Bischöfe gefragt, sondern alle in den Gemeinden.
Welchen Ort hat die Beschäftigung mit Missbrauch in der katholischen Kirche, welcher Raum sollte und muss dem Thema gegeben werden – vor dieser Herausforderung standen die Verantwortlichen des Katholikentags.
Missbrauch ist überall, sagt Erika Kerstner: „Es gibt keine Veranstaltung, es gibt keine Gruppe, keine Institution, in der nicht sexuelle Gewalt vorkommt. Davon dürfte auch der Katholikentag nicht ausgeschlossen sein.“
Erika Kerstner hat vor 20 Jahren mit dem Verein GottesSuche eine der ersten Betroffeneninitiativen in Deutschland gegründet. Missbrauch ist nicht der sensationelle Sonderfall, sondern der traurige Alltag – auch, wenn auch nicht nur, in der Kirche.

Es braucht verbindliche, unabhängige Instanzen

Das musste auch Georg Bätzing erfahren, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz: „Die innerkirchlichen Fragen: Missbrauch – ich selber habe ja auch noch mal unfreiwillig, aber einen Beitrag geleistet, dass diese Thematik sehr diskutiert worden ist.“
So formulierte es Georg Bätzing bei der Pressekonferenz zum Abschluss des 102. Katholikentags in Stuttgart. Und betonte noch einmal: Er habe sich an die Verfahrensregeln gehalten, als er einen Pfarrer erst wegen sexueller Nötigung abmahnte, ihn dann aber im Vertrauen auf dessen Reue Jahre später beförderte.
Beim Katholikentag wurde deutlich, wie viele – Betroffene wie Nicht-Betroffene – sich wünschen, etwas anderes zu hören als den Verweis auf Verfahrensregeln. Denn so sind es immer noch die Vertreter der Täterorganisation, die das Handeln bestimmen.
Die Ungeduld formulierte sehr deutlich Lars Castellucci, der religionspolitische Sprecher der SPD: „Die Betroffenen, mit denen ich spreche, vermitteln, dass sie erneut ohnmächtig sind. Sie klopfen wieder bei der Institution an, wo das passiert ist, dann glaubt man ihnen oder nicht, dann geht ein Prozess los, der letztlich unverbindlich ist. Ich habe keine klaren Prozessschritte", sagt Castelluci und mahnt einen verbindlichen gemeinsamen Rahmen an. "Wenn der nicht eingehalten wird, braucht es eine Stelle, an die ich mich wenden kann. Die kann dann nicht eine andere Adresse in diesem Bistum sein. Das muss unabhängig zugänglich sein, eine Clearingstelle, eine Ombudsstelle. Das ist eine Einrichtung, die man staatlicherseits schaffen muss.“

Keine Schonzeit mehr für Bischöfe

Auch für die Aufarbeitung von kirchenunabhängiger, staatlicher Seite seien verbindliche Vorgaben nötig, damit deren Ergebnisse nicht im politischen Alltagsbetrieb untergehen, meint der SPD-Politiker.
Das Pochen auf Verbindlichkeit macht deutlich: Die Lernphase, die man der katholischen Kirche und ihren Bischöfen zugestanden hat, ist vorbei.
Im Herbst wird der Trierer Bischof Stefan Ackermann sein Amt nach zwölf Jahren abgeben. Ein bisschen absurd wirkt es da schon, wenn er bei einer Diskussion seinen und den Anfängerstatus seiner Amtskollegen betont:

Bischöfe sind keine Traumaspezialisten, das muss man ganz klar sagen. Aber durch die Befassung über die Jahre ist das Wissen bei den Bischöfen oder wenigstens eine gewisse Kenntnis gewachsen.

Lieber hätte man im Publikum wahrscheinlich gehört, was er zur Causa Bätzing zu sagen hat oder auch dazu, dass er bewusst den Klarnamen einer unter Pseudonym auftretenden Betroffenen öffentlich gemacht hat. Aber die Publikumsfragen dazu wurden von der Moderatorin der Diskussion abgeblockt.

Ort für Missbrauchsopfer in der Kirche

Das war symptomatisch für die 90-minütige Veranstaltung und macht deutlich, warum von Seiten der Betroffenen immer wieder eine neue Perspektive eingefordert wurde bei diesem Katholikentag: Nämlich danach zu fragen, welchen Ort die Überlebenden von Missbrauch innerhalb der Kirche haben.
Es ist eine unbequeme Frage, denn sie richtet sich an alle Kirchenmitglieder, nicht nur an die mit Bischofssitz.
Robert Köhler vom Verein der Ettaler Misshandlungs- und Missbrauchsopfer formuliert es so: „Die Betroffenen werden Sie nie los. Wir sind so wie Tante Maria und Onkel Josef beim nächsten Familienfest wieder dabei. Sie schimpft über den Kuchen, und er ist schlecht gelaunt. Aber sie gehen hinterher trotzdem mit einer inneren Zufriedenheit nach Hause, weil sie waren eingeladen und sie waren dabei.“
Er möchte als Betroffener erhobenen Hauptes wieder an den Ort zurückkehren können, an dem ihm Gewalt angetan wurde, sagt Köhler.
Das ist eine Herausforderung nicht nur für ihn, sondern auch für die Menschen in der Kirche.

Auch die Laien sind beteiligt

Wenn Missbrauchsüberlebende nichts mehr mit der Institution zu tun haben wollen, fordert das nichts mehr von denen, die immer dabeigeblieben waren, von Missbrauch vielleicht etwas wussten, vielleicht auch nicht – aber die sich im Angesicht der Betroffenen verändern müssten.

Viele Jahre war es ja doch so, dass die Laien in der Kirche das Gefühl oder die Sichtweise hatten, das ist ein Skandal der Bischöfe, das ist ein Problem der Amtskirche, das betrifft uns in den Gemeinden vor Ort eigentlich wenig oder gar nicht. Außer dass man sich vielleicht geärgert über das ganze Prozedere.

Matthias Katsch, Betroffenenvertreter

Matthias Katsch von der Betroffenenorganisation Eckiger Tisch sagt das nicht auf einem Podium des Katholikentags, sondern draußen: an einem Stand, den seine Organisation zusammen mit den atheistischen Religionskritikern der Giordano-Bruno-Stiftung aufgebaut hat.
So nah an den Ständen der Kirchenmeile, wie es das Gericht erlaubte, sagt Katsch. "Mein Eindruck ist, dass die Betroffenen, die sich nicht einfügen, aber auch insgesamt die Betroffenen, die mitarbeiten, dass wir marginalisiert sind."
Erika Kerstner ergänzt: "Missbrauchsbetroffene sind in gewisser Weise Spielverderber, weil sie den Finger in die Wunde legen. Sie stören. Und das mögen nicht alle."
Erika Kerstner gehört mit ihrem Verein GottesSuche zu den Betroffenen, die mitarbeiten. GottesSuche hat in Stuttgart den Aggiornamento-Preis bekommen, mit dem der Katholikentag Initiativen auszeichnet, die sich mit gesellschaftspolitisch besonders drängenden Fragen beschäftigen. Die bei GottesSuche Engagierten suchen ihren Platz in der Kirche, ihren Platz auch in den Gemeinden.

Auf einem Banner steht: "Wir wissen Bescheid"

Dort, wo Gläubige immer noch lieber nicht so genau wissen wollen, ob Missbrauch auch etwas mit ihnen zu tun hat, oder wo sie unsicher sind, wie und ob sie das Thema ansprechen sollen, sagt diese Besucherin: "Es war jetzt auch, nachdem ich mich viel damit beschäftigt habe, die Frage: Gehe ich zu diesen Veranstaltungen, ist es mein Thema, obwohl ich nicht direkt Betroffene bin? Es geht nicht darum, irgendwie Betroffenen etwas abzusprechen oder sich eine Kompetenz anzumaßen, sondern eher zu sagen: Es geht uns alle an. Weil man sicher sehr viele kennt, von denen man nicht weiß, dass sie betroffen sind. Da einfach eine Sensibilität zu schaffen, find' ich wichtig."
Robert Köhler vom Verein der Missbrauchsbetroffenen im Internat des Klosters Ettal hat ein Banner für den Schaukasten von Kirchengemeinden zur Ansicht mitgebracht, auf dem steht: "Wir wissen Bescheid". Als Signal der Gemeinde für Besucher und Besucherinnen, dass es hier ein Bewusstsein und offene Ohren für Missbrauchserfahrungen gibt.
Erika Kerstner formuliert es so: "Da würde ich mir wünschen, dass Kirche einfach hinschaut und Menschen fragt: Was brauchen Sie? Auf diese Frage warten viele." Ein Wort aber möchte Erika Kerstner auch beim freundlichen Nachfragen nicht hören, nämlich das Wort "Versöhnung".

Die Forderung nach Versöhnung hilft allen. Die hilft natürlich den Tätern, die hilft denen, die den Tätern geholfen haben, die hilft den Zuschauern, den vermeintlich Unbeteiligte. Nur einer Gruppe hilft sie nicht, nämlich den Betroffenen. Die brauchen oft sehr lange, bis der Gedanke an Vergebung überhaupt denkbar wird, und für manche wird das erst im Jenseits eine Antwort finden. Diese Geduld können wir von unseren Mitchrist*innen schon erwarten.

Erika Kerstner, Betroffenenvertreterin

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