Missbrauch im Bistum Münster

Warum hat niemand etwas gesagt?

19:38 Minuten
Zahlreiche Menschen nehmen an der Informationsveranstaltung "Der Missbrauchsfall in Rhede" im Pfarrheim der Pfarrei "Zur Heiligen Familie" des Bistums Münster teil.
Aufklärung nach jahrzehntelangem Schweigen: Im November 2018 gingen von Missbrauch Betroffene zusammen mit der Gemeinde in Rhede an die Öffentlichkeit. © picture alliance / dpa / Roland Weihrauch
Thorsten Schmölzing im Gespräch mit Sandra Stalinski · 19.06.2022
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Eine Studie zu sexualisierter Gewalt im Bistum Münster dokumentiert zahlreiche Übergriffe bis ins Jahr 2020. In der Kleinstadt Rhede arbeiten Betroffene die Vorfälle mit der Gemeinde auf. Das brauche noch viel Zeit, sagt Pfarrer Thorsten Schmölzing.
Die Dimension der Vorfälle ist verstörend. 610 namentlich bekannte Opfer sexualisierter Gewalt durch Angehörige der katholischen Kirche im Bistum Münster in der Zeit von 1945 bis 2020 hat eine Studie der Uni Münster im Auftrag des Bistums ermittelt. Die Dunkelziffer liegt nach einer Schätzung der Forschenden um das Acht- bis Zehnfache höher. 196 Kleriker aus dem Bistum werden in der Studie sexueller Übergriffe auf Kinder und Jugendliche beschuldigt.

Übergriffe durch den Kaplan

Einer von ihnen ist der 2007 verstorbene Heinz Pottbäcker. Übergriffe auf mindestens 21 Kinder werden ihm vorgeworfen. Anfang der 1970er-Jahre war er im münsterländischen Rhede als Kaplan beschäftigt. Ein Mann, der als Kind von Pottbäcker missbraucht wurde, hat zusammen mit dem heutigen Pfarrer der Gemeinde, Thorsten Schmölzing, eine Initiative gestartet, um die Vorfälle publik zu machen.
Thorsten Schmölzing, mit Brille, im schwarzen Sakko, lächelt freundlich in die Kamera.
"Ich glaube, wir müssen noch lange reden", sagt Pfarrer Thorsten Schmölzing. Gemeinsam mit Betroffenen bietet er ein Forum, um über Fälle sexualisierter Gewalt in der Gemeinde zu sprechen.© Bistum Münster
"Wir haben vor etwa drei Jahren einen ersten Schritt in die Öffentlichkeit getan", erzählt Schmölzing. Nach einer Informationsveranstaltung, an der auch Vertreter des Bistums beteiligt waren, hätten sich zahlreiche Menschen bei der Gemeinde gemeldet. Weitere von Missbrauch Betroffene gaben sich zu erkennen. Eine Arbeitsgruppe gründete sich und gab seither mit Filmabenden, Diskussionen und einer Ausstellung weitere Anstöße zum öffentlichen Austausch.

Manche möchten das Thema ruhen lassen

In der Gemeinde habe es dafür viel Zuspruch gegeben, vereinzelt aber auch Ablehnung, erzählt Schmölzing. Viele Gemeindemitglieder seien als Jugendliche von Heinz Pottbäcker für den Glauben begeistert worden und hätten ihn in guter Erinnerung. Manche sagten, nun sei doch genug über dessen Verfehlungen geredet worden, es sei an der Zeit, die Sache ruhen zu lassen.
"Ich antworte dann, dass wir uns so lange mit dem Thema Missbrauch beschäftigen, wie es Gesprächsbedarf gibt", sagt Schmölzing. "Mindestens bei den direkt Betroffenen, aber auch bei anderen, gibt es noch Gesprächsbedarf. Ich glaube, wir müssen noch lange reden."
Die Studie der Universität Münster beruht im Unterschied zu früheren Untersuchungen dieser Art nicht auf juristischer Expertise, sondern sie wurde von vier Historikern und einer Sozialanthropologin durchgeführt. Die Forschenden nahmen auch die Umstände in den Blick, die sexualisierte Gewalt begünstigt und eine konsequente Aufklärung und Verfolgung der Straftaten erschwert haben.

Verdrängung und Schuldgefühle von Mitwissern

Zudem erörtern sie in der Studie auch die Rolle sogenannter Bystander: Mitwisser, die Vorfälle beobachteten oder die zumindest etwas ahnten oder Gerüchte kannten und dennoch nichts unternahmen, um Täter zur Verantwortung zu ziehen und weitere Taten zu verhindern. Von sexuellen Übergriffen Betroffene hätten ihm durchaus berichtet, "dass es Gemeindemitglieder gab, die Missbrauchsakte gesehen haben", sagt Schmölzing. Aber bisher habe ihm gegenüber noch niemand aus der Gemeinde geäußert, von den Vorfällen damals etwas mitbekommen zu haben.
"Es kann sein, dass auch bei Menschen, die einen Missbrauch mitbekommen, Verdrängungsmechanismen wirksam sind, die ähnlich stark sind wie bei direkt Betroffenen", vermutet Schmölzing. Andererseits könne er sich auch vorstellen, "dass Schuldgefühle so groß sind, dass sich Personen nicht trauen, das öffentlich zu sagen".

Beziehungsangebot für Betroffene

Für ihn sei entscheidend, dass die Kirche direkt Betroffenen und ihren Angehörigen ein Gesprächsangebot mache, sagt Schmölzing. "Im Grunde bieten wir Beziehung an, all denen, die irgendwie davon betroffen sind, dass es hier in Rhede diesen Priester gab, der Kinder missbraucht hat." Dieses Angebot müsse auf Dauer bestehen, betont Schmölzing.

Manch ein Betroffener braucht einfach Zeit und kann vielleicht heute noch nicht über seinen Missbrauch sprechen, möchte aber vielleicht in fünf Jahren einen kirchlichen Ansprechpartner haben. Dann muss er wissen, dass wir da sind.

Thorsten Schmölzing, Pfarrer in Rhede

Intensivtäter wie der Kaplan in Rhede hätten nicht nur das Vertrauen missbraucht, das ihnen als Seelsorger entgegengebracht wurde, erklärt Schmölzing. „Heinz Pottbäcker hat auch den Glauben missbraucht, indem er Kindern gesagt hat: Das ist ein Geheimnis zwischen dir, Gott und mir – und Gott will das; wenn du das jetzt verrätst, dann wird dir Gott das niemals verzeihen, sondern du wirst dann in die Hölle kommen.“

Unterstützung weiterer Gemeinden

Es sei ihm auch deshalb wichtig, einen Beitrag zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu leisten, weil die Täter so eklatant gegen den ureigensten Auftrag der Kirche verstoßen hätten, sagt Schmölzing: „Jesus hat uns dazu beauftragt, Kinder zu schützen und dafür zu sorgen, dass Kinder stark werden, auch stark im Glauben werden. Wenn Priester Kinder missbraucht haben, dann haben sie genau das Gegenteil getan.“
Die Arbeitsgruppe in Rhede werde sich auch darum bemühen, weitere Gemeinden zu eigener Aufarbeitung zu ermutigen, erklärt der Pfarrer. Viele täten sich damit offenbar noch schwer. Auf Angebote an zehn Pfarreien, die in Rhede entwickelte Ausstellung zum Thema auszuleihen, habe er nicht einmal eine Antwort erhalten, so Schmölzing. „Es braucht vielleicht eine stärkere Unterstützung von Seelsorge-Teams und auch Gremien in Pfarreien, die sich das aus sich heraus nicht zutrauen.“
(fka)

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