Migration

Allein gelassen

Rumänen warten vor einem Bus nach Deutschland und Belgien darauf, dass ihr Gepäck verladen wird.
Rumänen warten vor einem Bus nach Deutschland und Belgien darauf, dass ihr Gepäck verladen wird. Seit 1. Januar 2014 gilt für sie die volle EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit. © picture alliance / dpa/ Robert Ghement
Von Manfred Götzke und Leila Knüppel · 19.02.2014
Rund 2,5 Millionen Rumänen haben auf der Suche nach Arbeit ihr Land verlassen. Ihre Kinder bleiben nicht selten in der Heimat zurück. Sie wachsen ohne Eltern auf - bei Verwandten, in Heimen oder allein.
Die Schule ist aus und einige Kinder lümmeln auf dem ausgebeulten Sofa im Gemeinschaftsraum des Kinderheims, schauen "Violetta" - eine Nachmittagsserie.
Christiana Moldovan und ihr Tanzpartner Marcel lassen sich davon nicht irritieren - sie üben Cha-Cha-Cha. Beim Tanzen streckt die 13-Jährige ihre Beine bis in die Zehen, spannt die Arme an. Nur die langen, dunkelbraunen Haare lassen sich nicht bändigen, wippen und hüpfen.
Christiana: "Wenn ich älter bin, möchte ich Tanzlehrerin werden. Ich tanze, seit ich neun bin."
Mit zwei Monaten kam Christiana hierher, ins Kinderheim "Stern der Hoffnung" im westrumänischen Alba Iulia. Ihre Mutter hat sie hier abgegeben - mit dem Versprechen, sie bald abzuholen. Erst neun Jahre später meldete sie sich wieder.
Christiana: "Meine Mama lebt inzwischen in Spanien, mit meiner Oma und Schwester. Ich weiß nicht allzu viel über sie, nur, dass sie in einem Tattoo-Studio arbeitet."
Christiana führt durch das Kinderheim: ihr Zuhause, ein anderes kennt sie nicht. In dem umfunktionierten Mehrfamilienhaus leben 40 Kinder, drei Hunde und Gita, der Koch.
Christiana: "Hier, im Speiseraum, tanze ich am Wochenende. Sonst wird hier gegessen."
Die sogenannten EU-Waisen
Acht der 40 Kinder im Heim sind - genau wie Christiana - sogenannten EU-Waisen. Kinder, deren Eltern im Ausland leben und arbeiten. Sie sind die eigentlichen Verlierer der großen Auswanderungswelle: Etwa 2,5 Millionen Rumänen arbeiten in anderen EU-Ländern - jeder Achte. Die Kinder bleiben nicht selten einfach zurück, bei Verwandten - oder landen im Heim.
Schließlich zeigt Christiana noch das Büro des Heims. Leiterin Sybille Hüttemann-Boca und ihre Mitarbeiterin müssen mit dem Jugendamt telefonieren, Mails beantworten, Rechnungen bezahlen. Trotzdem finden sie noch Zeit, Christiana zu schelten.
Boca: "Hast du dich geschminkt, Christiana?"
Christiana: "Nö!"
Mitarbeiterin: "Ich hab gesagt, dass sie das nicht tun soll, aber sie denkt, es steht ihr."
Kurz nach der Wende ist Hüttemann-Boca aus Deutschland nach Rumänien gekommen, um sich um obdachlose Jugendliche zu kümmern. Seitdem werden in ihrem Heim immer wieder Kinder abgegeben, deren Eltern ins Ausland gehen.
Boca: "Wir kennen viele Leute, wo die Eltern die Kinder in den Wohnungen allein gelassen haben. Die werden dann von den Nachbarn hin und wieder … die gucken dann nach, ob die noch was zu essen haben oder ob es noch irgendwie geht."
Wie viele dieser EU-Waisen in Rumänien leben, weiß keiner genau. 2008 ging UNICEF von 350.000 Kindern aus. Einige der alleingelassenen brechen die Schule ab, andere werden depressiv, nehmen Drogen, rutschen in die Kriminalität ab. Manche Kinder fühlen sich so einsam, dass sie sich das Leben nehmen.
"Wer kann, geht weg"
Morgens um halb sieben in Moisei, einem kleinen Dorf im Norden Rumäniens. Mit weit ausholender Geste streut Toader Koman Weizenkörner in den Schnee. Denn bevor der 63-Jährige selbst frühstückt, müssen die Hühner und Kälber versorgt werden.
Toader: "Jetzt haben die Kälber genug Heu. Tür zu, damit sie es warm haben."
Fast jeder hier im Dorf hat ein paar Tiere und baut Kartoffeln selbst an. Denn mit dem durchschnittlichen Bruttomonatslohn von knapp 500 Euro kann man kaum überleben. Zumal die Preise westliches Niveau erreicht haben.
Toader: "Wer kann, geht weg. Es arbeiten noch ein paar Mädchen in den Bars, Geschäften, da sind noch junge Leute. Sonst gibt es keine Arbeit. Hier gibt es keine Zukunft."
Toader und seine Frau Maria müssen mit einer kleinen Rente zurechtkommen. Seine Nachbarn dagegen arbeiten seit sechs Jahren in Mailand. Die Frau putzt, der Mann repariert Autos. Sie bauen sich in Rumänien neben dem alten Holzhaus, ein neues großes aus Stein.
Seit sechs Jahren ohne Eltern
Ihre 21-jährige Tochter Lena führt durch die Räume. Noch sind die Zimmer unverputzt und leer. Nur das Bad ist schon fertig eingerichtet.
Lena: "Das ist das Bad, sehr modern. Wir haben eine Waschmaschine, eine Badewanne und eine Duschkabine."
Dusche und Waschmaschine - das gab es all die Jahre vorher nicht.
Abends gucken Lena und ihre beiden jüngeren Geschwister, Anka und Viorell, fern. Seit sechs Jahren leben die drei Geschwister ohne Eltern. Ihren zehnjährigen Bruder Viorell haben die beiden Schwestern praktisch allein großgezogen.
Lena Coman: "Am Anfang haben wir Mama und Papa sehr vermisst, dann haben wir uns daran gewöhnt."
Reporter: "Und für dich, Viorel, ist es schwer?"
Viorel: "Am Anfang, jetzt geht's."
Lena: "Wir sind uns bewusst, dass sie für uns arbeiten - deswegen müssen wir vernünftig sein und keinen Ärger machen."
Anka: "Ich bin wie die Mama und Lena ersetzt Papa: Erziehung und alles."
Erst in einem halben Jahr, im Sommer, werden die Kinder ihre Eltern wieder sehen. Dann kommen sie für einige Wochen zurück, um beim Hausbau nach dem Rechten zu sehen.
Neues Land - neue Familie
Christiana: "Das ist meine Schwester, das meine Mutter."
Reporter: "Wo sind die?"
Christiana: "In Spanien, in Benidorm, wo sie wohnen."
Die 13-jährige Christiana hat sich im Büro des Kinderheims an den Rechner gesetzt und zeigt Bilder von ihrer Mutter, die in Spanien eine neue Familie gegründet hat. Ab und zu schreibt sie Christiana noch über Facebook.
Christiana: "Sie fragt mich, wie es hier im Heim ist. Ich sage, es gefällt mir hier gut."
Dass ihre Mutter sie irgendwann abholen und zu sich nehmen wird, daran glaubt sie nicht mehr. Anfangs musste sie deswegen oft weinen, mittlerweile gibt sie sich abgeklärt.
Christiana: "Ich weiß nicht, ob sie zurückkommt. Sie hat es mir versprochen, aber ist nicht gekommen. Naja, mir gefällt es hier und vielleicht ist es auch besser, dass sie mich hier gelassen hat. Vielleicht könnte ich in Spanien nicht einmal tanzen, wenn ich da leben würde."
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