Michel Serres: „Das Verbindende. Ein Essay über Religion“

Im Hot Pot des Hotspots

05:51 Minuten

Michel Serres

Übersetzt von Stefan Lorenzer

„Das Verbindende. Ein Essay über Religion“Suhrkamp Verlag, Berlin 2021

240 Seiten

16,00 Euro

Von Katharina Teutsch · 09.12.2021
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Einen Tag vor seinem Tod übergab der französische Philosoph Michel Serres seiner Lektorin ein Manuskript: den Versuch einer synthetischen Philosophie für das 21. Jahrhundert, inspiriert von der jahrtausendealten Wirkmacht des Religiösen.
Michel Serres gehörte zu den letzten großen Persönlichkeiten der französischen Philosophie. Vielleicht sollte man speziell auf Frankreich gemünzt ergänzen: der philosophischen Öffentlichkeit. Denn Serres hatte Bodenhaftung, schrieb auch so, obwohl er unterwegs war in den abstrakten Sphären der höheren Mathematik, der Kommunikationstheorie und der Metaphysik.
Zuletzt hatte er von sich reden gemacht mit einem „optimistischen Wutanfall“, der die Kultur-Kassandras seiner Generation, die das Internet und die Jugend nicht mehr verstanden, mahnend fragte: „Was genau war früher besser?“
Dabei erinnerte Serres an die Zeitschrift Elle, die in seiner Kindheit noch ganz aufklärerisch an Frauen appellierte, doch bitte täglich die Unterwäsche zu wechseln.

Es war nicht alles besser!

Aber er hatte auch triftigere Beispiele. Da, wo der ältere Kulturpessimist gerne den Individualismus der Generation Smartphone dämonisierte, entgegnete Serres: „Ich verstehe ihn, wenn er mit einer gewissen Nostalgie sagt, früher hätten wir noch zusammengelebt, während sich heute jeder einzelne in die Isolation seines Handys zurückziehe. Aber bedenkt man, durch welche Ideologie die von ihm gepriesenen Zugehörigkeiten einst zusammengehalten wurden und zu welchen Verbrechen manche dieser Ideologien führen sollten – wer wollte sie nicht lieber aufgeben?“
Wenn es also so etwas wie eine Haltung in Michel Serres‘ Schaffen gab, dann war es wohl die Haltung der Versöhnlichkeit. Einerseits zwischen den Disziplinen, den Natur- und den Kulturwissenschaften, andererseits zwischen den Generationen, und letztlich in seiner Kommunikationstheorie auch zwischen Sendern und Empfängern.

Die Relektüre des Verbindenden

So ist es nur folgerichtig, dass Serres einen Tag vor seinem Tod einen Versöhnungs-Essay freigab. „Relire le Relié“ ist sein französischer Titel. „Das Verbindende“ in der Übersetzung, die das eingesetzte Wortspiel unterschlägt.
„Das Verbindende neu lesen“ wäre die wörtliche Übersetzung. Denn „der Begriff Religion, sagen die Sprachwissenschaftler, hat zwei Ursprünge, einer wahrscheinlicher als der andere: relegere – ‚wiederlesen’, ‚überdenken’ – und religare – ‚verbinden’, ‚binden’“.
Serres‘ Essay über das Verbindende der Religion mäandert zwischen persönlicher Bibelexegese und einer Energietheorie des Religiösen, das Serres in der Metapher der „Hot Spots“ fasst.
Dabei macht er sich die Achsenzeit-Theorie von Karl Jaspers zunutze. Stehen die dort mit Konfuzius, Buddha und Zarathustra benannten „Hot Spots“ der Religionsstiftung in Verbindung mit der noch älteren Erfindung dreier anderer Abstrakta: dem Geld, dem algebraischen X und dem Buchstaben?
Und wohin führen deren hyperabstrakte Ableitungen im digitalen Jetzt? Befinden wir uns möglicherweise in einer neuen Achsenzeit und sitzen im Hot Pot unserer vernetzten Kultur?

Dem Spirituellen auf der Spur

Die erstaunlichen Beharrungsvermögen der Religionen, das in ihnen wirksame Feuer der Spiritualität, davon ist Serres fasziniert. „Diese Hotspots auszuloten, durch das unbegreifliche Dickicht von Mythen zu dringen, die von so tiefem Dunkel sind, dass es uns nicht ganz geheuer ist, uns von ihnen aufklären zu lassen; und jenen merkwürdigen Kristallisationsprozess zu begreifen, das ist die abenteuerliche Hoffnung dieses Buchs.“
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