Irrfahrten und Schiffbrüche

Von Jochen Stöckmann · 31.07.2010
Michel Serres, 1930 in der französischen Provinz geboren, ist ein Philosoph ganz eigener Art, einer, der sich schon als Student abseits jener Denkrichtungen bewegte, die um 1950 in Paris vorgezeichnet waren: Marxismus und Phänomenologie à la Sartre, auch Soziologie und selbst die neu entdeckte Psychoanalyse schienen ihm zu sehr begrenzt.
Mit Ausflügen ins Reich der Comics, als Kenner von Tintin, von "Tim und Struppi", ist der Philosoph Michel Serres einem größeren Publikum bekannt geworden. Als Wissenschaftler schwimmt der Achtzigjährige immer noch gerne gegen den Strom, gewinnt überraschende Erkenntnisse und anregende Ideen abseits üblicher Fahrwasser. Und so schien es Alexander Kluge im Berliner Haus der Kulturen der Welt geraten, den Gast aus Paris mit der Anspielung auf ein Projekt des französischen Revolutionsarchitekten Leqeue zu begrüßen:

"Ein Leuchtturm für Wanderer in der Wüste. Ein wunderbares Symbol dafür, dass wir Aufklärung zur Verfügung haben. Und dann so, wie das Schiff auf See durch die Leuchtfeuer den Hafen findet, so findet er den Weg zu uns."

Und saß nun dem deutschen Filmemacher gegenüber, der in Bildern denkt und spricht, der die Zuhörer überwältigt mit gewagten Vergleichen, mit kühnen Bögen durch Milliarden Jahre der Evolutionsgeschichte hindurch. An Michel Serres allerdings, dem ehemaligen Marineoffizier, scheiterte Alexander Kluge gleich im ersten Anlauf:

"Sie haben es gehört: Der Leuchtturm gilt als Metapher der Aufklärung. Aber der Leuchtturm erhellt, erleuchtet nicht, er warnt vor Hindernissen wie Felsen und signalisiert 'Hier geht es nicht lang!'"

So antwortete kurz und knapp Michel Serres, der Wissenschaftshistoriker und Mathematiker, der für seine exakten Studien bekannte "Epistemologe". In den insgesamt drei Berliner Gesprächen war aber auch Michel Serres, der Philosoph, zu erleben. Ein hellwacher Geist, ein um treffende Anekdoten nie verlegener Erzähler, der über seine "Causerien" nie "la cause" vergisst, den Anlass seines zwanglosen Dialogs:

"Das Ziel ist eine scharfsichtige Analyse der Gegenwart und die Vorwegnahme dessen, was die Welt von morgen ausmachen wird. So, wie Aristoteles das Mittelalter vorausgesehen hat und Descartes die Moderne."

Damit setzt Serres sich ab von den sogenannten Analysten, die alljährlich ihre von Sachzwängen geprägten Prognosen weiterschreiben. Aber auch jenen Experten, die neuerdings im Zuge der Klima- und anderer Umweltkatastrophen über alle Bildschirme flimmern, kann der Wissenschaftstheoretiker Paroli bieten. Hat er doch bereits 1990 in seinem Buch "Der Naturvertrag" grundlegende Veränderungen vorgeschlagen, etwa eine Umweltjustiz, die sich heute der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko annehmen dürfte:

"Vor diesem Gericht könnte im Namen des Meeres Klage geführt werden gegen BP. Und es gäbe diese Möglichkeit für den Wald, die Lagune, eine Wüste."

Die Natur in ihr eigenes Recht setzen, das ist kein verblasenes Projekt, sondern Ergebnis seriöser Forschung jener "harten" Naturwissenschaften, deren Entwicklung Michel Serres als Historiker begleitet:

"Bäume vermögen sich untereinander zu warnen. Im Tier- und Pflanzenreich gibt es eine Kommunikation - analog zu der unter uns Menschen. Und die große Entdeckung der Wissenschaft ist der Sprung von der Untersuchung der Kräfte und Energien zur Analyse dieser Codes."

Das wäre dann ein Fall für den Kommunikationswissenschaftler Michel Serres, der sich nicht bei abstrakten Codes aufhält, sondern gerne Literaturbeispiele von Jules Verne bis Emile Zola heranzieht. Der aber auch ein Auge hat für soziologische Aspekte der Gegenwart, der darauf hinweist, wie schwierig es für Liebende geworden ist, eine Ehe eingehen, dass es Lehrern kaum noch gelingt, ihre Klassen zusammenzuhalten:

"Das hat die französische Nationalelf der ganzen Welt exemplarisch demonstriert. Wie bildet man eine Mannschaft? Wir können es nicht mehr! Kein Philosoph beantwortet dies Frage: Wie können Individuen, wie sie sich bis heute entwickelt haben, noch eine Gemeinschaft bilden? "

Das 20. Jahrhundert war nicht vorbereitet auf das "Abenteuer Individuum", denn es kam, wie Serres mit Nietzsche sagt, auf Taubenfüßen daher. Ebenso lautlos und von den Medien kaum beachtet brach die bäuerliche Welt zusammen, erhöhte sich die durchschnittliche Lebenserwartung. Und es gibt noch mehr solcher dürren "Fakten", deren Wirkung auf unser Zusammenleben erst in den meisterhaft analytischen Erzählungen von Michel Serres anschaulich werden:

"Heute gibt es mehr lebende als tote Wissenschaftler. Die Akademie muss die Zahl der Sitze erhöhen, weil immer mehr Disziplinen entstehen. Das liegt an der enormen Verbreitung neuer Sicht- und Wahrnehmungsweisen. Und dasselbe geschieht in der zeitgenössischen Kunst."

Und auch darüber konnte Michel Serres im Gespräch mit Catherine David, der Leiterin der documenta X, Auskunft geben. Schließlich galt eines seiner ersten Bücher Vittore Carpaccio, dem venezianischen Maler des Quattrocento - und seiner Bedeutung für unsere Gegenwart.