Michail Prischwins Tagebücher

"Das Gesicht der Revolution hat niemand gesehen"

56:20 Minuten
Der russisch/sowjetische Schriftsteller Michail Prischwin.
Der russisch/sowjetische Schriftsteller Michail Prischwin. © Guggolz Verlag
Von Eveline Passet · 27.03.2022
Audio herunterladen
Der Schriftsteller und Journalist Michail Prischwin zeichnet von 1905 bis 1954 auf, was er sieht, hört und denkt. Er verbirgt die Tagebücher sogar vor seiner Frau, denn in der Sowjetunion sind diese Notate lebensgefährlich. Aus ihnen spricht eine Epoche.
In den Aufständen und Kämpfen, die das Zarenreich bis zur Oktoberrevolution 1917 erschütterten, griffen viele Menschen zur Feder und begannen, ein Tagebuch zu führen. Die meisten ließen es wieder – aus Angst, aus Not, weil sie emigrierten oder in den Säuberungen ermordet wurden.
Der Schriftsteller und Journalist Michail Prischwin aber, der sein Tagebuch 1905 begonnen hatte, wird die Hefte bis zu seinem Tod 1954 weiterführen – im Verborgenen. Bekannt, populär und reich wurde er in der Sowjetunion als schreibender Sänger der Natur. Prischwin konnte sich ein großes Haus bauen, besaß mehrere Jagdhunde und Autos. Doch nicht die Bücher betrachtete der Sowjetschriftsteller als sein Hauptwerk, sondern die Tagebücher.

"Zehn Jahre Tod durch Erschießen"

Nicht weniger als 120 Hefte füllt Prischwin und verbirgt sie zeit seines Lebens. Auch die erste, ungeliebte Ehefrau weiß nichts von ihnen. Die zweite, geliebte wird für ihre Veröffentlichung sorgen, die erst in der Perestroika denkbar wird und mehr als 25 Jahre in Anspruch nimmt: Zwischen 1991 und 2017 erscheinen 18 Bände. Die Tagebücher umfassen ohne Anmerkungen knapp 13.000 eng bedruckte Seiten.
Eveline Passet, die Autorin dieses Features, gibt eine von ihr auch übersetzte Auswahl in vier Bänden heraus. Der zweite Band ist gerade im Guggolz Verlag erschienen.

Michail Prischwin: "Tagebücher Bd. 2 - 1930-1932"
Herausgegeben und übersetzt von Eveline Passet. Mit einem Nachwort von Ulrich Schmid.
Guggolz Verlag, Berlin 2022
506 Seiten, 34 Euro

"Für jede Zeile meines Tagebuchs", schreibt Prischwin mit groteskem Sarkasmus, "zehn Jahre Tod durch Erschießen." Das ist eine Verballhornung ins Kenntliche: Der oder die verhaftete Familiengehörige sei "zu zehn Jahren ohne Recht auf Briefwechsel" verurteilt worden, lautete die übliche Nachricht des stalinistischen Staates in den Säuberungen der 1930er-Jahre. Sie bedeutete meist, dass der Häftling erschossen wurde.

Vom Abrichten der Jagdhunde und den kargen Barmitteln

Prischwin sagt von sich, er wolle "alles verstehen, alles ertragen, nichts vergessen und nichts vergeben". Sein Tagebuch, in manchem vergleichbar mit dem des Romanisten Victor Klemperer, der sein Überleben unter den Nationalsozialisten festhält, enthält beinahe alles: Aufstellungen von Barmitteln und Reiseutensilien, Exzerpte aus Büchern, eingeklebte Zeitungsartikel, Wetteraufzeichnungen und Naturschilderungen, Traumnotate, Reisenotizen, Anleitungen zum Abrichten von Jagdhunden, Reflexionen zu Literatur, Religion und Philosophie, zu Freunden und Nachbarn, zeithistorischen Ereignissen und immer wieder Gehörtes und Erlauschtes, dazu Gesprächsprotokolle sowie Entwürfe zu Prosatexten, die mitunter unverändert in publizierte Werke hinüberwandern.

Roh und ausgefeilt

Kaum ein Genre fehlt: Es gibt Bonmots und Aphorismen, Parabeln, Mikroessays, märchenhafte und mythenhafte Erzählungen, Idyllen, Grotesken. Manche Einträge bestehen aus einem Satz, andere ziehen sich über mehrere Seiten hin. Einiges ist roh hingeworfen, anderes ausgefeilt. Und selbst das Schicksal eines Hundes in finsteren Zeiten findet Aufmerksamkeit:

"Ein hungriger Hund mit abgeschabtem Fell wankte den Bolschoi Prospekt entlang, Ecke achte Linie wäre er beinahe gestürzt, fing sich aber, lief schwankend weiter durch die achte, ihm entgegen kam eine Straßenbahn, er blieb stehen, schaute, als fragte er sich ernstlich, ob es sich lohne auszuweichen, und entschied: 'Nein' und legte sich auf die Schienen. Der Wagenführer brachte sein Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig zum Halten, und die Qualen des hungrigen Hundes hatten ein Ende."

(pla)

Das Manuskript zur Sendung aus dem Jahr 2020 finden Sie hier.

Es sprechen: Tonio Arango, Eva Meckbach, Markus Hoffmann, Viktor Neumann
Ton: Christoph Richter
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Jörg Plath

Mehr zum Thema