Julia Cimafiejeva: "Minsk. Tagebuch"

Chronik einer Revolution

07:29 Minuten
Das Cover des Buches von Julia Cimafiejeva, "Minsk. Tagebuch", auf orange weißem Hintergrund
Julia Cimafiejeva hat mitdemonstriert in Minsk. Später ging sie nach Graz ins Exil. © Deutschlandradio / Edition Fototapeta
Von Lara Sielmann · 12.07.2021
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Julia Cimafiejeva hat ein Tagebuch über die ersten Monate der Revolution in Belarus nach der Präsidentenwahl 2020 verfasst. Darin gibt sie einen sehr unmittelbaren Eindruck von der damaligen Situation in Minsk und der Grausamkeit des Staates.
Euphorisiert läuft die Lyrikerin Julia Cimafiejeva zusammen mit ihrem Partner, dem Autor Alhierd Bacharevic, und vielen anderen Demonstrierenden durch die belarussische Hauptstadt Minsk. Es ist der 16. August 2020, knapp zwei Wochen zuvor wurde Alexander Lukashenko wieder zum Präsidenten von Belarus gewählt – nicht die erste korrupte Wahl unter dem Machthaber, wie es die Dichterin schildert.
Doch dieses Mal ist etwas anders, geschätzte 300.000 Bürgerinnen und Bürger gehen auf die Straße, unter ihnen Intellektuelle, Arbeiterinnen, junge wie alte Menschen. "Das Seltsamste ist, dass es keine Polizei gibt, es ist, als hätten sie sich versteckt", protokolliert die Autorin als sie wieder zuhause ist: "Ich spüre ein Gefühl von Glück, Freiheit und Unwirklichkeit angesichts dessen, was geschehen ist."

Bruder der Autorin wird verhaftet

Schon wenige Wochen später ist die Euphorie vorbei und die Polizei geht hart gegen die Demonstrierenden vor – viele von ihnen werden verhaftet und es gibt Verletzte und sogar Tote. Auch Julia Cimafejevas Bruder wird verhaftet, doch er kommt einigermaßen glimpflich davon – weder wurde er schwer misshandelt, noch war er lange inhaftiert.
Ein willkürliches Glück, wenn man so will: Die Gefängnisse waren überlastet, die Polizei entließ aus der Not heraus inhaftierte Demonstrant*innen.
In drei Teile erzählt die Autorin auf knapp 120 über die ersten Monate der Revolution nach der Präsidentschaftswahl 2020 in Belarus: August, Oktober, März – eine Zeitspanne, in der aus Zuversicht Verzweiflung wurde.

Man spürt die Ohnmacht

Es sind kurze, eindringliche Sätze wie Passagen, in denen man beim Lesen das Gefühl hat, selbst dabei zu sein, als liefe man mit ihr in einem großen Pulk die Hauptstraße von Minsk entlang, um dann ebenso schnell wegzulaufen, wenn Gefahr in der Luft liegt.
Man spürt die Ohnmacht, angesichts der scheinbar aussichtslosen Situation, in einem Land zu leben, in dem das herrschende Regime alles dafür tut, um an der Macht zu bleiben.
Und so wird aus Julia Cimafiejevas zunächst elektrisierten Ton ein ernüchternder: "Manchmal denke ich, dass sie mit imaginären Feinden kämpfen: grausam, brutal, stark, bis an die Zähne bewaffnet, echte Superkriminelle – die nur in den Köpfen der belarussischen Machthaber existieren", notiert sie am 11. März 2021.

Im Exil entstanden

Da ist sie schon zusammen mit Alhierd Bacharevic im österreichischen Exil, in Graz als "Writer in Exile" – zu angespannt war die Lage in Minsk. Als eines der Gesichter der oppositionellen Intellektuellen war Julia Cimafiejeva öffentlich aufgetreten und musste damit rechnen, ebenfalls inhaftiert zu werden.
In Grazer Exil erst ist dieses Tagebuch entstanden, das trotz seines hohen Aktualitätsbezugs auch literarisch zeitlos ist. Erzählt die Belarussin doch von zwei großen menschlichen Gefühlen: Angst und Hoffnung.
Sie selbst hat sich im Exil die Haare kurz rasiert, so wie viele junge belarussische Studierende – aus Solidarität mit den inhaftierten Professoren und ihren Kommlitoninnen. Zumindest über die Freiheit ihres Kopfes kann kein noch so autoritärer und brutaler Staat bestimmen.

Julia Cimafiejva "Minsk. Tagebuch"
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Rostek
Edition Fototapeta, Berlin 2021
128 Seiten, 13 Euro

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