MeToo in der Gamingbranche

Spieleentwicklerinnen wehren sich gegen Sexismus

19:33 Minuten
Eine Frau trägt eine VR Brille.
Jetzt hat auch die Gamingbranche ihr MeToo: Auf Twitter berichten Spieleentwicklerinnen über sexuelle Übergriffe. © Getty / E+
Dennis Kogel im Gespräch mit Jennifer Scheurle, Kim Belair und Mandy Jerdes · 18.07.2020
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Von der verbalen Anmache bis zur sexuellen Gewalt: Frauen, die in der Videospielindustrie arbeiten, wollen die dort herrschende Machokultur nicht länger hinnehmen und gehen an die Öffentlichkeit. Ihre Vorwürfe richten sich auch an die Stars der Branche.
Statistiken zeigen, dass Frauen und Männern gleichermaßen Videospiele konsumieren. Trotzem arbeiten in der Entwicklung immer noch vorwiegend Männer. Und seit Jahren gibt es Debatten über den Umgang in den Spielesschmieden und die dort herrschenden Arbeitsbedingungen.
Gerade wird ein Thema an die Öffentlichkeit gebracht, das lange verborgen geblieben war: sexuelle Übergriffe in Spielestudios. Los ging der aktuelle Aufschrei auf Twitter, und zwar in einer Community von Spieleentwicklerinnen. Einige von ihnen haben angefangen, über übergriffiges Verhalten von ihren männlichen Kollegen zu sprechen: unprofessionelles Verhalten, ungewollte Komplimenten, Grabschereien und sexuelle Gewalt. Und es werden auch konkrete Namen genannt.

"Jede Frau in der Spieleindustrie kann jemanden outen"

Unter den Genannten befinden sich auch Stars der Branche. Zum Beispiel Chris Avellone: ein Autor, der am Kultrollenspiel "Planescape Torment" mitgearbeitet hat. Ihm wurden von mehreren Frauen sexuelle Übergriffe, Unprofessionalität und Fehlverhalten vorgeworfen. Er reagierte daraufhin zwar nicht auf Medienanfragen, stritt die Vorwürfe aber auch nicht ab und entschuldigte sich bei mehreren Frauen auf Twitter. Für viele Frauen in der Spielebranche waren seine Übergriffe schon lange ein offenes Geheimnis, das in sogenannten "Flüsternetzwerken" geteilt wurde.
"Das ist schwierig auszudrücken, aber wir haben diesen schwarzen Humor unter uns Entwicklerinnen, dass jede Frau in der Spieleindustrie jemanden outen kann." So beschreibt die Gamedesignerin und Vorsitzende des Verbands "Women in Games", Teil des internationalen Games-Entwickler-Verbands IGDA, Jennifer Scheurle, die Situation.

Nicht nur Sexismus ist ein Problem

Das heißt nicht, dass jede Frau in der Gamesbranche sexuelle Gewalt erlebt hat, doch Sexismus, Rassismus und diverse andere Benachteiligungen sind an der Tagesordnung. Genau das zeigten auch die Schilderungen auf Twitter: Dutzende Frauen fingen an, ihre Geschichten öffentlich zu machen. Nicht immer ging es dabei um sexuelle Gewalt, aber fast immer darum, wie Männer in der Spieleindustrie Machtpositionen ausgenutzt haben, oft auch sexuell.
Dadurch hat sich so viel an Momentum entwickelt, dass Frauen aus der Branche jetzt einen Hoffnungsschimmer für Änderungen sehen. Die Spieleentwicklerin Kim Belair, die an Blockbustertiteln wie "Assassin’s Creed" oder "Far Cry" mitgearbeitet hat, nennt zwei entscheidende Faktoren dafür. Einer ist das Coronavirus, das viele zur Heimarbeit zwingt:
"Das erzeugt diese Situation, in der du von den Dynamiken zurücktrittst, an die du dich gewöhnt hast. Du merkst: 'Hey, Moment mal, irgendwas läuft hier falsch!' Und ich glaube, der zweite Punkt ist die Black-Lives-Matter-Bewegung. Auf der ganzen Welt wird für Gerechtigkeit gekämpft. Wir sehen die Ungleichheit, mit der wir lebten, wir sehen diese Grausamkeiten, diese Bösartigkeit und Gewalt unserer Institutionen und wir sagen: Etwas muss sich ändern."

Industriegigant Ubisoft will sich jetzt komplett neu aufstellen

Ein Beispiel dafür ist Ubisoft, eine der größten Gaming-Firmen der Welt, verantwortlich für die Anno-Reihe oder das schon genannte Assassin’s Creed. Von dieser Firma handeln besonders viele Geschichten, die auf Twitter geteilt werden. Es geht um übergriffige Chefs in Kanada und Frankreich, die ihre Entwicklerinnen begrabschen, die Beförderungen für Sex versprechen, die rassistisch und sexistisch sind.
Die Vorwürfe waren so drastisch, dass sich Ubisoft-CEO Yves Guillemot persönlich in der Pflicht sah, einzugreifen und Führungspersonal auszutauschen – sogar seine rechte Hand Serge Hascoet, dessen Job es war, alle Spiele zu überblicken und der eine Abteilung geleitet hat, in der es zu besonders vielen Übergriffen gekommen sein soll. Nun soll die Firma sogar grundlegend neustrukturiert werden.
Doch die Probleme der Branche gehen weit über Ubisoft heraus, wie Jennifer Scheurle beschreibt: "Es ist systemisch. Ich kann auf die Spieleentwicklerkonferenz gehen und ich werde mich nicht sicher fühlen. Es spielt keine Rolle, welche Firmen da sind. Sie sind alle da! Und das ist ein Problem. Das System ist das Problem."

"Warum haben die Frauen in eurer Branche Angst zu sprechen?"

Gerade die Firmen, über die nichts gesagt wird, hätten oft das größte Problem – ein schlechtes Zeichen für die deutsche Gamesbranche, in der es verdächtig still geblieben sei. "Das sollte einem Sorgen bereiten. Jede einzelne Alarmglocke sollte klingeln, wenn Deutschland schweigt. Jede einzelne. Ich kenne Leute, die in Deutschland arbeiten, die keine guten Menschen sind – speziell Frauen gegenüber. Da stellt sich die Frage: Warum haben die Frauen in eurer Branche Angst zu sprechen?"
Mandy Jerdes, deutsche Spieleentwicklerin und Dozentin für Spieleentwicklung an der privaten SAE-Hochschule, sagt etwas ähnliches: "Man kennt sich, man hilft sich untereinander. Man trifft sich auch. Die Branche ist, was ich nochmal positiv betonen möchte, sehr familär. Aber dadurch, dass es so familiär und so persönlich ist, dass man per Du ist, auch nach Feierabend mal zusammensitzt, herrscht auch relativ schnell so eine Vetternwirtschaft."
Und deshalb, sagt sie, gebe es auch in Deutschland ein "Flüsternetzwerk", in dem Frauen in der Branche sich vor bestimmten Personen warnen: "Ich sage dann auch zu meinen Studentinnen: Okay, pass auf, bei den und den Personen musst du dann vorsichtig sein. Und lass dir nicht von anderen Leuten erzählen, dass du einen Job kriegst, wenn du irgendetwas für sie machst."

Frauen bleiben selten lange in der Gamingbranche

Ein strukturelles Problem, das dieses Verhalten von Männern noch befördert, ist die geringe Frauenquote der Branche. Die liegt nicht einmal an mangelndem Nachwuchs, sondern daran, dass viele Frauen nicht lange in der Industrie bleiben. Die Gehälter in der Spieleindustrie sind niedriger als in Tech-Konzernen und vergleichbaren Jobs. Hinzu kommt, dass Gewerkschaften, die Angestellte schützen könnten, in der Spieleindustrie bis jetzt kaum eine Rolle spielten.
Damit dieser MeToo-Moment der Branche also nicht verpufft, muss sich einiges an Strukturen ändern. "Wir brauchen diversere Führungskräfte. Sowohl was die Geschlechtervielfalt angeht, wie auch die Hautfarbe", sagt Jennifer Scheurle. "Wir brauchen People of Color in führenden Rollen. Wir brauchen Frauen in führenden Rollen. Wir brauchen non-binäre Personen und so weiter und so fort. Und wir müssen dafür sorgen, dass diese diversen Menschen nicht wieder gehen."
Auch die vorherrschende Arbeitskultur müsse sich ändern. Die beschreibt Kim Belair so: "Die momentan vorherrschende Kultur verherrlicht diese abstrakte Idee von Talent und Kreativität über allem anderen. Und sie sagt: Männer können das von Natur aus besser. Sie sind wichtiger, begabter, unantastbarer. Das sind die Strukturen, die wir in der Spieleindustrie aufgebaut haben. Wir haben diese Idee erschaffen, dass der Creative Director der Typ ist, der das Spiel gemacht hat. Und alle andere waren nur da, um seine persönliche Vision umzusetzen."
(hte)
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