75 Jahre Menschenrechtscharta

Warum über die Menschenrechte gestritten wird

Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt Eleanor Roosevelt, wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hält und betrachtet.
Eleanor Roosevelt im Jahr 1949 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Sie war Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission, die das Dokument erstellte. © picture alliance / Everett Collection
Es waren die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Nazigräuel, die zur Verabschiedung der Menschenrechtscharta 1948 führten. Heute wird die Menschenrechtserklärung bisweilen als Agenda des Westens kritisiert. Was ist dran an den Vorwürfen?
Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Ein großer zivilisatorischer Fortschritt. Denn dadurch wurden erstmals die grundlegenden Rechte und Freiheiten aller Menschen anerkannt. Damit gelten sie als zentraler Bezugspunkt für die internationale Politik.
Doch bis heute wird auch Kritik an der Erklärung laut. Ein Vorwurf: Sie sei vor allem ein westlich geprägtes Dokument. Wie universal sind die Menschenrechte eigentlich?

Was ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gräuel verabschiedet.
Mit ihr wurden erstmals grundlegende Rechte und Freiheiten aller Menschen allgemein anerkannt. So heißt es im Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
Insgesamt umfasst die Erklärung 30 Artikel, die sich gegen Diskriminierung in jeder Form richten. So wird Sklaverei verboten. Verfolgte erhalten das Recht auf Asyl. Jeder darf denken und glauben, was er will, und alle haben das Recht auf soziale Sicherheit. Auch die Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit ist in der Erklärung verankert.
Anspruch auf diese Rechte und Freiheiten hat jeder – „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ (Artikel 2).
Damit wird das schutzbedürftige Individuum zu einem Subjekt des Völkerrechts. Staatliche Organe haben die Pflicht, Menschenrechte nicht zu verletzen und sie vor Eingriffen durch Dritte zu schützen. Sie müssen außerdem die Wahrnehmung der Rechte ermöglichen.

Was führte zu ihrer Verkündung durch die Vereinten Nationen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die halbe Welt in Trümmern, Abermillionen Menschen waren gestorben. Unter diesen Eindrücken gründeten 51 Staaten 1945 die Vereinten Nationen (UN).
In ihrer Charta versprachen sie, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu bewahren“. Außerdem formulierten sie ein weiteres ehrgeiziges Ziel: „Die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen.“ Welche Rechte und welche Freiheiten das konkret sind, sollte eine neue Menschenrechtskommission festlegen.
Diese legte ihren Entwurf im Mai 1948 dem UN-Ausschuss vor. Nun mussten die Staatenvertreter sich einigen – und das in einer Zeit, in der die Ost-West-Spannungen zunahmen.
Bei der Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung in Paris stimmten 48 Staaten mit Ja. Die Vertreter der kommunistischen Länder – ČSSR, Jugoslawien, Polen, die Sowjetunion, die Ukraine und Belarus – enthielten sich, ebenso Saudi-Arabien und Südafrika.
Der Preis für die mühsame Einigung: Die Menschrechtsdeklaration ist kein völkerrechtlich bindendes Recht, sondern ein „von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal“.

Welche Werte und welche Akteure haben die Menschenrechtserklärung geprägt?

Für die Menschenrechtskommission wurden Delegierte ausgewählt, „die nicht abhängig sein sollten von der Linie ihrer Regierungen“, sagt der Historiker Jan Eckel. „Personen, die eine gewisse Reputation hatten“ - wie beispielsweise Eleanor Roosevelt, die Witwe des 32. US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt.
Sie wurde die Vorsitzende der insgesamt sehr heterogenen Gruppe. Die Erklärung trägt vor allem ihre Handschrift. Bis zuletzt kämpfte sie um jeden Satz. An ihrer Seite stand der deutsch-französische Widerstandskämpfer und Jude Stéphane Hessel.

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Mit dabei waren außerdem beispielsweise der libanesische Philosoph Charles Malik, der französische Jurist René Cassin, dessen nahezu gesamte Familie im Holocaust ermordet worden war, der stark vom Konfuzianismus geprägte Chinese Peng Chun Chang und Hansa Mehta, die für die Unabhängigkeit Indiens kämpfte.
Eleanor Roosevelt (4. von links), Vorsitzende der Menschenrechtskommission des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen, steht am 30. April 1946 mit anderen Mitgliedern der Kommission am Hunter College in New York City. Von links nach rechts sind Dr. P. J. Schmidt, Sekretär, Dr. C. L. Hsia aus China; K. C. Noggie aus Indien; Frau Roosevelt, Henry Laugier, stellvertretende Generalsekretärin für soziale Angelegenheiten; Nikolai Kryukov, U.S.S.R.; und Dusan Brkish aus Jugoslawien zu sehen.
Eine heterogene Gruppe: einige Mitglieder der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen.© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Anonymous
Die unterschiedlichen Vorstellungen in Bezug auf Menschenrechte miteinander zu vereinen, war eine schwierige Aufgabe: Die kommunistischen Vertreter betonten soziale und wirtschaftliche Aspekte. Delegierte aus westlichen Ländern legten mehr Wert auf den Schutz des Individuums. Die stark von der katholischen Soziallehre geprägten lateinamerikanischen Länder setzten sich wiederum für ein Recht auf Wohnung und Nahrung ein. Hinzu kamen unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf Religion. Auch das große Gefälle zwischen armen und reichen Ländern erschwerte eine Einigung.
„Die Kluft war so groß, dass es nahezu unmöglich war, Begriffe zu formulieren“, die allen gerecht wurden, schreibt Eleanor Roosevelt. Doch am Ende steht die Erklärung der Menschenrechte.

Welche Vorläufer hatte die Menschenrechtserklärung der UN?

Bereits die Magna Charta – die "Große Urkunde der Freiheiten" – von 1215 garantierte Lehnsrecht gegenüber der königlichen Willkür, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Doch erst im 17. und 18. Jahrhundert beschäftigten sich Philosophen vermehrt mit dem Spannungsverhältnis zwischen staatlichen Pflichten und den Rechten des Individuums.
„In den Menschenrechten steht das Individuum im Mittelpunkt und seine Rechte gegenüber dem Staat, der das Individuum schützen muss“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Für sie gehen die Menschenrechte „auf die Moderne zurück, auf die Aufklärung, aus politischen Revolutionen und Erklärungen“. Damals wurden erste Grundrechte formuliert, die jedem Menschen zustehen.
Zentrale Dokumente sind die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution von 1789 sowie die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien vom British Empire von 1776.

Welche Kritik gibt es am Konzept der Menschenrechte?

Wer sich auf Menschenrechte beruft, dem schlägt bisweilen der Vorwurf der Heuchelei und einer gewissen Doppelmoral entgegen: Der Westen verbräme mit dem Verweis auf Menschenrechte nur eine von Macht- und Wirtschaftsinteressen geleitete Politik.
„Gerade Staaten mit kollektivistischen Traditionen wie China oder auch islamische Staaten argumentieren, dass die allgemeine Erklärung nicht mit den Werten des Islam und dem Koran vereinbar sei und nehmen die individuellen Menschenrechte als Instrument zur Durchsetzung westlicher Interessen wahr“, schreibt dazu Norbert Lammert (CDU), Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, zum Jahrestag der Menschenrechtserklärung.
Schließlich sei die verabschiedete Menschenrechtscharta vor allem ein westlich geprägtes Dokument, so die Argumentation der Kritiker. Sie wurde verabschiedet, als viele Regionen – vor allem in Asien und Afrika – noch Kolonien waren. Die UN sei damals noch keine Weltorganisation gewesen, betont auch der Historiker Jan Eckel, und die Generalversammlung, die die Menschenrechtserklärung 1948 beschloss, „nicht repräsentativ für die Welt“.
Daher habe es immer wieder Versuche gegeben, alternative Abkommen zu schaffen, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung: Beispielsweise die „Kairoer Erklärung“ von 1990, die von den Staaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit beschlossen wurde. Sie definiert Menschenrechte vor dem Hintergrund der Scharia und steht in erheblichem inhaltlichen Widerspruch zur UN-Menschenrechtserklärung. Ein anderes Beispiels ist die 1981 verabschiedete „Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker“, die Pflichten gegenüber Familie, Staat und Gesellschaft stärker hervorhebt.
Auf der Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien 1993 gipfelten die Vorwürfe in „offensive, sehr aggressive Kritik“, erinnert sich der Menschenrechtler Michael Windfuhr, der an der Konferenz teilnahm. Damals wurde „sehr dezidiert gesagt, Menschenrechte sind eigentlich eine neokoloniale Idee des Westens, die dazu führen soll, dass sich westliche Staaten einmischen in Ländern, die andere Kulturen haben und auch andere Vorstellungen von politischer Ordnung und politischer Gerechtigkeit“.
Am Ende stimmten jedoch alle 171 UN-Mitgliedstaaten der Wiener Erklärung zu und legitimierten damit die Menschenrechtserklärung von 1948. Aber die Zweifel an der Universalität der Menschenrechtserklärung bleiben bestehen und werden vor allem aus den Überlegungen der postkolonialen Denkschulen heraus verstärkt. Eine gefährliche Entwicklung, warnt der Menschenrechtler Markus Beeko. „Wer Menschenrechte als westliche Werte betitelt, der leistet ihnen einen Bärendienst“, warnt er. „Wir müssen solidarisch an der Seite derer stehen, deren Regierungen versuchen, ihnen ihre Menschenrechte abzusprechen, anstatt den Menschen in den Rücken zu fallen.“

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Vielerorts schrumpft der Raum zur Verteidigung der Menschenrechte jedenfalls. Denn um diese durchzusetzen, brauche es „ein Minimum an einer offenen Gesellschaft“, sagt Miriam Saage-Maaß, Legal Director bei der Menschenrechtsorganisation ECCHR. Sie verweist auf den Terroranschlag am 11. September 2001, den darauffolgenden „War on Terror“ und die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von den USA und deren Verbündeten begangen worden sind.
Ihre Prognosen sind düster. Die Zeit der Menschenrechte könnte bereits ihren Zenit überschritten haben, so Saage-Maaß. „Oder man sieht das mehr auf einem Kontinuum und sagt: Menschenrechte und progressive, freiheitliche Positionen haben gerade keine Konjunktur, sondern sind eher in der Defensive aktuell.“

lkn
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