Melita Šunjić: „Die von Europa träumen“

Wenn aus Träumen Albträume werden

05:35 Minuten
Cover von Melita Sunjic auf orangem Aquarellhintergrund.
Was heißt es, als Migrant in die EU zu kommen? Darüber schreibt Melita Šunjić. © Picus Verlag / Deutschlandradio
Von Sieglinde Geisel · 18.03.2021
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Die Journalistin Melita Šunjić hat zahlreiche Gespräche mit Flüchtlingen in Europa, Afrika und Asien geführt. In ihrem Buch wendet sie sich gegen die eurozentrischen Migrationsdebatten und fordert, nicht mehr über, sondern mit Migranten zu reden.
Die österreichische Journalistin Melita Šunjić, langjährige Pressesprecherin des UNHCR, dreht in ihrem Buch die Blickrichtung um: Von der Frage, was Migration für Europa bedeutet zu der Frage, wie die Migration aus Sicht der Betroffenen aussieht. Anhand von neun Kurzgeschichten werden individuelle Fallbeispiele erzählt, die aus über 2.000 Interviews rekonstruiert wurden.
Die Geschichten zeigen nicht nur ein breites Spektrum der Migration, sondern auch die Absurditäten der europäischen Asylpolitik. So verstehen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge nicht, warum sie nach der Registrierung in Österreich nicht zu ihrem Onkel nach Amsterdam weiterreisen können, der sie aufnehmen will. Der 16-jährige Eritreer wollte dem lebenslangen Militärdienst entkommen und muss drei Jahre später einsehen, dass die Torturen der Flucht umsonst waren, weil er in Europa kein Asyl bekommt. Ein Senegalese will nur arbeiten und wundert sich darüber, dass er nur bleiben kann, wenn er um Asyl nachsucht, dabei hat er im Internet offene Stellen für seinen Beruf gefunden. Eine 16-jährige Nigerianerin will einer Zwangsheirat entkommen und fällt auf eine Menschenhändlerin herein, und von den 18-jährigen Zwillingen aus Somalia überlebt nur die Schwester die libyschen Folterlager, sie ist schwanger von dem "Herrn", bei dem sie ihre "Schulden" abstottern muss.

Die Illusionsspirale

Diese Geschichten sind eine schwer erträgliche Lektüre. Sie zeigen uns eine Realität, von der wir kaum etwas ahnen. Es ist ein dringend notwendiges Wissen für alle, die in den Migrationsdebatten mitreden wollen. So unterschiedlich die Geschichten sind: Was alle Migranten verbindet, ist ihr idealisiertes Bild eines Europas, wie sie es aus den Medien kennen. Niemand von ihnen hätte gedacht, dass man es ihnen in Europa so schwer machen würde, doch gleichzeitig halten sie selbst die Illusionsspirale am Laufen: Kaum jemand erzählt der Familie zu Hause von der eigenen Not. Die Scham ist zu groß, abgesehen davon, dass man ihnen nicht glauben würde.
Im zweiten Teil des Buches liefert Melita Šunjić die Hintergründe für die Sackgasse, in der die Migrationspolitik der EU steckt. Auf wenigen Seiten findet man die wichtigsten Zahlen, beispielsweise die Quote der Flüchtlinge pro Million Einwohner: In Polen sind es 63, in Deutschland 1.964, im Libanon 180.000. Šunjić fordert eine ganzheitliche Migrationspolitik, die die Bekämpfung der Schleppermafia ebenso umfasst, wie zeitbegrenzte Arbeitsvisa für Migranten sowie eine Versorgung der Flüchtlinge vor Ort und eine rasche Abwicklung von Asylgesuchen.

Was die Migranten selbst wollen

Diese Forderungen sind nicht neu – im Gegensatz zu den Vorschlägen, die von den Migranten selbst kommen. 2018 befragte die Autorin im Rahmen einer Studie Migranten aus Westafrika, die meisten strebten einen Gastarbeiterstatus an. Zu ihren Vorschlägen gehören etwa Städtepartnerschaften statt Kooperationen auf staatlicher Ebene. Die Rückkehrhilfe von abgelehnten Migranten sollte nicht mit Einmalzahlungen verbunden sein, sondern der Hilfe zur Existenzgründung. Und die Migrationspolitik der EU sollte Flüchtlinge und Migranten zur Beratung hinzuziehen.
Das Buch von Melita Šunjić könnte die Migrationsdebatte aus der Erstarrung lösen – vorausgesetzt, es wird Pflichtlektüre für verantwortliche Politiker*innen.

Melita H. Šunjić: Die von Europa träumen. Wie Flucht und Migration ablaufen
Picus-Verlag, Wien 2021
200 Seiten, 22 Euro

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