Meine armenische Großmutter

Von Rolf Hosfeld |
Der Neo-Osmanismus erzeugt Irritation: Er stellt die offizielle Geschichtsmythologie der Türkei nachhaltig infrage. Aus dieser Irritation könnte die Einsicht entstehen, dass man trotz staatlich verordneter Leugnung vor den Verbrechen der Vergangenheit nicht fortlaufen kann.
Morgen ist der 24. April. An diesem Tag gedenken Armenier in aller Welt des Beginns jener Katastrophe, die sie Aghet nennen. Aghet ist ein armenisches Wort und bedeutet so etwas wie unfassbares Verbrechen, große Katastrophe. In den Jahren 1915/16 wurden im damaligen Osmanischen Reich mindestens eine Million Armenier durch eine zentral gelenkte Politik in den Tod getrieben. Es war ein Völkermord. Und er betraf ein Volk, das seit Jahrhunderten in Anatolien siedelte, schon lange bevor turkstämmige Reiterarmeen ihre ersten Hufen auf diesen Boden setzten.

In den Blütezeiten des Hauses Osman – im 15./16. Jahrhundert wusste man das noch. Der Geschichtsschreiber Asikpasazade, der zur Zeit Mehmets des Eroberers lebte, schrieb einmal: "Die örtlichen Christen sind unsere Nachbarn. Wir sind als Heimatlose in dieses Land gekommen und sie haben uns gut aufgenommen." Er wusste: Die Türken waren die eigentlichen Fremden im Reich Osmans.

Erst der moderne türkische Nationalismus hat diese Sicht umgekehrt und erzählt seitdem eine andere Geschichte. Zu Zeiten des Staatsgründers Atatürk ging die politische Mythenproduktion mitunter so weit, die alten Hethiter zu den eingeborenen anatolischen Vorfahren der Türken zu erklären. In dieser Perspektive waren plötzlich alle eingesessenen Nicht-Türken die eigentlichen Fremden.

Heute hat sich einiges geändert. Man spricht viel von Neo-Osmanismus. Außenpolitisch ist damit ein neuer Anspruch der Türkei als regionale Führungsmacht gemeint. Doch innenpolitisch zeigt dieser Zeitgeist mitunter überaus paradoxe Wirkungen. Er erzeugt Irritationen. Er kann im Gewand einer postmodernen Sehnsucht nach Vielfalt auftreten. Er kann vor allem aber auch die offizielle nationalistische Geschichtsmythologie nachhaltig in Frage stellen.

Wir waren einst alle Kinder desselben osmanischen Reichs, las man kürzlich in einem türkischen Zeitungskommentar, bis der moderne Virus des Nationalismus über uns kam und die Hölle ausbrach. Die Hölle? Das waren vor allem die Jahre 1915/16.

Auslöser solcher Irritationen war vor allem ein Buch, das vor einigen Jahren mit dem unscheinbaren Titel "Meine Großmutter" erschien. In ihm erzählt die Rechtsanwältin Fethiye Cetin die Geschichte ihrer Großmutter, die ihr kurz vor ihrem Tod offenbarte, dass sie eigentlich eine Armenierin war und Heranusch Gardarian hieß. Sie war 1915 von einer türkischen Familie gerettet worden und wuchs als Muslimin mit einem türkischen Namen auf. Doch ihr ganzes Leben lang hatte sie die Erinnerung an ihre Herkunft und ihre ursprüngliche Familie nie vergessen.

Das kleine Buch wurde ein Bestseller in der Türkei, und das ist das eigentlich Erstaunliche an der Geschichte. Wie viele solcher armenischer Großmütter gibt es? Zehntausende, vielleicht Hunderttausend? Demographisch auf heute hochgerechnet, bedeutet das: Sehr viele Türken, die sich diese Frage nie stellten, haben vermutlich armenische Wurzeln.

Cetins Buch fand eine unerwartet große Resonanz. Andere Bücher erschienen zu diesem Thema. In den Medien wurde darüber debattiert. "Ich habe keine persönliche Information über die Geschichte von Millionen Armeniern, die hier gelebt haben", schrieb ein Leser in der Tageszeitung "Hürriyet" nach dem Erscheinen von Cetins Buch. "Aber ich weiß, dass meine Großmutter armenische Eltern hatte. Und ich möchte gern wissen, welche Macht meine Großmutter von Heim und Herd getrennt hat, als sie noch ein kleines Kind war, und wer verantwortlich ist für die Herzensqualen, die sie immer vor uns verbergen musste."

Scheinbar unpolitische Fragen von hoher politischer Brisanz. Wer bin ich? Was bedeutet es eigentlich, ein Türke zu sein? Aus dieser Irritation könnte die Einsicht entstehen, dass man trotz staatlich verordneter Leugnung vor den Verbrechen der Vergangenheit nicht fortlaufen kann. Schon deshalb nicht, weil niemand weiß, ob er nicht selbst vielleicht ein Nachfahre von Opfern ist. Morgen ist der 24. April. Ein Anlass, wieder einmal daran zu erinnern, dass Mythen kurze Beine haben. Und dass ein geprüftes Verhältnis zur eigenen Geschichte zu den zentralen Werten Europas gehört.
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