Komplexe Rache?
Auch noch 95 Jahre danach leugnet der türkische Staat den Genozid an den Armeniern. Der Publizist Rolf Hosfeld erzählt die Geschichte der Auslöschung des armenischen Volkes auf türkischem Boden von ihrem Nachspiel aus: dem wenig bekannten Rachefeldzug armenischer Nationalisten gegen die Hauptverantwortlichen des Völkermordes.
Es geschah am hellen Tag, mitten in Berlin, in der Hardenbergstraße, Ecke Fasanenstraße. Am 15. März 1921 wurde der ehemalige türkische Großwesir Talaat Pascha aus nächster Nähe erschossen. Dennoch sprach in dem anschließenden, spektakulären Prozess ein Berliner Gericht den Täter frei. Vordergründig, weil ihm momentane Unzurechnungsfähigkeit zugestanden wurde, tatsächlich aber, weil vor Gericht ans Tageslicht gekommen war, was der Ermordete dem Volk des Angeklagten angetan hatte. Was das Gericht freilich nicht erfuhr: Bei dem Armenier Soghomon Tehlirjan, der die tödlichen Schüsse abgab, handelte es sich nicht um einen verzweifelten Einzelgänger. Er schlug vielmehr im Auftrag einer Verschwörung zu.
"Mit Tehlirjans Auftrag beginnt eine armenische Vergeltungspolitik, die sich selbst den Namen "Nemesis" gegeben hat. Talaat ist in Berlin von den Rächern systematisch gesucht, und als man ihn gefunden hatte, auch überwacht worden. Zwischen Hardenbergstraße, Savignyplatz und Uhlandstraße war im Frühjahr 1921 ein armenisches Netz aufgespannt, dem Talaat kaum entrinnen konnte."
Was wie ein Bericht über einen Aufsehen erregenden Kriminalfall klingt, führt ins Zentrum der Geschichte einer der grauenvollsten Massenvernichtungsaktionen des 20. Jahrhunderts. Das Interesse daran ist keineswegs nur historisch. Der türkische Genozid an den Armeniern vor 95 Jahren, der von Talaat Pascha maßgeblich geplant und befehligt worden war, ist mit der Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei zu einem aktuellen Politikum geworden. Der türkische Staat leugnet beharrlich dieses Menschheitsverbrechen, dem seit April 1915 zwischen 800.000 und 1,4 Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Der Publizist Rolf Hosfeld erzählt die Geschichte der Auslöschung des armenischen Volkes auf türkischem Boden von ihrem Nachspiel aus - dem wenig bekannten Rachefeldzug armenischer Nationalisten gegen die Hauptverantwortlichen des Völkermordes. Er will damit jedoch keineswegs türkische Schuld relativieren. Vielmehr erschließt sich aus dieser Erzählperspektive die deutsche Verstrickung in die bis dahin beispiellose Mordaktion. Hosfeld betont,
"dass der Völkermord an den Armeniern ohne die schützende Hand des Deutschen Reiches während des Waffenbündnisses im Ersten Weltkrieg kaum möglich gewesen wäre."
So wie die offizielle deutsche Politik das Massaker an den Armeniern stillschweigend hinnahm, hatten doch andererseits Deutsche wesentlichen Anteil daran, das Schweigen zu brechen. Vor allem der evangelische Theologe Johannes Lepsius, der sowohl bei den Führern des Osmanischen Reiches als auch bei der deutschen Reichsregierung darauf drang, den Verbrechen ein Ende zu setzen. Die Verteidigung im Prozess von 1921 stützte sich wesentlich auf von Lepsius zusammengetragene Dokumente. Aber auch der deutsche Botschafter Paul Graf von Wolff-Metternich hatte Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg bestürmt, dem türkischen Regime in den Arm zu fallen und die Wahrheit über die als "Deportation" der Armenier getarnten systematischen Massentötungen und Todesmärsche zu enthüllen.
"Bethmann Hollweg ist allerdings über solche Vorstöße, in seinen Augen verantwortungslose Träumereien, eher indigniert. "Ich begreife nicht, wie Metternich diesen Vorschlag machen kann", notiert er an den Rand des Dokuments. "Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Kriegs wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Kriegs an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türkei noch sehr brauchen."
Nicht von ungefähr hatte Talaat Pascha nach der Kriegsniederlage und der folgenden Auflösung des Osmanischen Reiches in Deutschland Zuflucht gefunden. Und nicht von ungefähr fand der Mord an Talaat und der anschließenden Prozess gegen den Attentäter daher in Berlin statt. In diesem Prozess aber wurde nunmehr vor der Weltöffentlichkeit publik, was die deutsche Reichsregierung gewusst, aber aus vermeintlicher Staatsräson verschwiegen und gedeckt hatte.
Als das Verfahren vor dem Landgericht Berlin-Moabit am 5. Juni 1921 beginnt, befindet sich
"unter den ortsansässigen Zuschauern auch der junge Jurastudent Robert M.W. Kempner, der später als deutscher Jude in die USA emigrieren und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der Ankläger im Nürnberger Prozess gegen die Nazis werden sollte. (…) Der Pistolenschuss Tehlirjans (…) erinnerte die Welt noch einmal an ein völkerrechtliches Dilemma, in dem sie sich während des Ersten Weltkriegs befunden hatte. Wie weit darf sich ein Staat in die Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates einmischen, wenn dieser Verbrechen gegen die Menschheit begeht? In seinem formalen Verlauf hatte der Tehlirjan-Prozess es zwar nicht möglich gemacht, den Völkermord an den Armeniern auf die Agenda der Anklage zu setzen, doch die ganze Verhandlung und die Art und Weise, wie sie öffentlich wahrgenommen wurde, hatte etwas von einem frühen Völkerrechtstribunal an sich."
Rolf Hosfeld hat in seinem Buch nicht nur die politisch- diplomatischen Verwicklungen rund um den Genozid an den Armeniern sowie dessen weltpolitischen Folgen aufgedeckt. Er schildert auch detailliert die Entstehung und die Durchführung des wahnwitzigen Vorhabens, die armenische Bevölkerung restlos vom türkischen Boden zu tilgen. Sein Buch kann daher als Standardwerk der Aufarbeitung dieses Verbrechens gegen die Menschheit gelten.
Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005
"Mit Tehlirjans Auftrag beginnt eine armenische Vergeltungspolitik, die sich selbst den Namen "Nemesis" gegeben hat. Talaat ist in Berlin von den Rächern systematisch gesucht, und als man ihn gefunden hatte, auch überwacht worden. Zwischen Hardenbergstraße, Savignyplatz und Uhlandstraße war im Frühjahr 1921 ein armenisches Netz aufgespannt, dem Talaat kaum entrinnen konnte."
Was wie ein Bericht über einen Aufsehen erregenden Kriminalfall klingt, führt ins Zentrum der Geschichte einer der grauenvollsten Massenvernichtungsaktionen des 20. Jahrhunderts. Das Interesse daran ist keineswegs nur historisch. Der türkische Genozid an den Armeniern vor 95 Jahren, der von Talaat Pascha maßgeblich geplant und befehligt worden war, ist mit der Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei zu einem aktuellen Politikum geworden. Der türkische Staat leugnet beharrlich dieses Menschheitsverbrechen, dem seit April 1915 zwischen 800.000 und 1,4 Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Der Publizist Rolf Hosfeld erzählt die Geschichte der Auslöschung des armenischen Volkes auf türkischem Boden von ihrem Nachspiel aus - dem wenig bekannten Rachefeldzug armenischer Nationalisten gegen die Hauptverantwortlichen des Völkermordes. Er will damit jedoch keineswegs türkische Schuld relativieren. Vielmehr erschließt sich aus dieser Erzählperspektive die deutsche Verstrickung in die bis dahin beispiellose Mordaktion. Hosfeld betont,
"dass der Völkermord an den Armeniern ohne die schützende Hand des Deutschen Reiches während des Waffenbündnisses im Ersten Weltkrieg kaum möglich gewesen wäre."
So wie die offizielle deutsche Politik das Massaker an den Armeniern stillschweigend hinnahm, hatten doch andererseits Deutsche wesentlichen Anteil daran, das Schweigen zu brechen. Vor allem der evangelische Theologe Johannes Lepsius, der sowohl bei den Führern des Osmanischen Reiches als auch bei der deutschen Reichsregierung darauf drang, den Verbrechen ein Ende zu setzen. Die Verteidigung im Prozess von 1921 stützte sich wesentlich auf von Lepsius zusammengetragene Dokumente. Aber auch der deutsche Botschafter Paul Graf von Wolff-Metternich hatte Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg bestürmt, dem türkischen Regime in den Arm zu fallen und die Wahrheit über die als "Deportation" der Armenier getarnten systematischen Massentötungen und Todesmärsche zu enthüllen.
"Bethmann Hollweg ist allerdings über solche Vorstöße, in seinen Augen verantwortungslose Träumereien, eher indigniert. "Ich begreife nicht, wie Metternich diesen Vorschlag machen kann", notiert er an den Rand des Dokuments. "Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Kriegs wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Kriegs an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türkei noch sehr brauchen."
Nicht von ungefähr hatte Talaat Pascha nach der Kriegsniederlage und der folgenden Auflösung des Osmanischen Reiches in Deutschland Zuflucht gefunden. Und nicht von ungefähr fand der Mord an Talaat und der anschließenden Prozess gegen den Attentäter daher in Berlin statt. In diesem Prozess aber wurde nunmehr vor der Weltöffentlichkeit publik, was die deutsche Reichsregierung gewusst, aber aus vermeintlicher Staatsräson verschwiegen und gedeckt hatte.
Als das Verfahren vor dem Landgericht Berlin-Moabit am 5. Juni 1921 beginnt, befindet sich
"unter den ortsansässigen Zuschauern auch der junge Jurastudent Robert M.W. Kempner, der später als deutscher Jude in die USA emigrieren und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der Ankläger im Nürnberger Prozess gegen die Nazis werden sollte. (…) Der Pistolenschuss Tehlirjans (…) erinnerte die Welt noch einmal an ein völkerrechtliches Dilemma, in dem sie sich während des Ersten Weltkriegs befunden hatte. Wie weit darf sich ein Staat in die Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates einmischen, wenn dieser Verbrechen gegen die Menschheit begeht? In seinem formalen Verlauf hatte der Tehlirjan-Prozess es zwar nicht möglich gemacht, den Völkermord an den Armeniern auf die Agenda der Anklage zu setzen, doch die ganze Verhandlung und die Art und Weise, wie sie öffentlich wahrgenommen wurde, hatte etwas von einem frühen Völkerrechtstribunal an sich."
Rolf Hosfeld hat in seinem Buch nicht nur die politisch- diplomatischen Verwicklungen rund um den Genozid an den Armeniern sowie dessen weltpolitischen Folgen aufgedeckt. Er schildert auch detailliert die Entstehung und die Durchführung des wahnwitzigen Vorhabens, die armenische Bevölkerung restlos vom türkischen Boden zu tilgen. Sein Buch kann daher als Standardwerk der Aufarbeitung dieses Verbrechens gegen die Menschheit gelten.
Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005

Cover: "Rolf Hosfeld: Operation Nemesis"© Kiepenheuer & Witsch