Kulturkampf um die Deutungshoheit
In "Die Armenierfrage in der Türkei" von Sibylle Thelen geht es um den Umgang des Landes mit seiner schwierigen Vergangenheit. Die Autorin fasst den Stand der Forschung zu den Ereignissen von 1915 zusammen.
Ein schmales Bändchen. Und doch ein wichtiges, ein sympathisches, ein gut informiertes Buch. Sibylle Thelens "Die Armenierfrage in der Türkei", kommt zudem zum rechten Zeitpunkt. Gerade eben hat der amerikanische Kongress eine Resolution verabschiedet, in der die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich 1915/16 eindeutig als Völkermord bezeichnet wird, was die offizielle politische Türkei vehement bestreitet.
Woher diese Empfindlichkeit? Woher diese sysiphosartige, stets gleiche Reaktion auf eine von der weitaus größten Zahl seriöser Historiker eindeutig beantwortete Frage?
Ja, es war ein Völkermord. Die im Ersten Weltkrieg mit den Osmanen verbündete deutsche Regierung sah das bereits so, auch wenn dieser juristische Völkerrechtsbegriff damals noch nicht existierte. Sie formulierte es, Anfang Juli 1915 so: Es sei offensichtlich das erklärte Ziel der Regierung in Istanbul, "die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten". Klare Worte des Botschafters Wangenheim an Kanzler Bethmann-Hollweg in Berlin, denen man heute - 95 Jahre danach - kaum etwas hinzufügen kann.
Wieso die Bewertung der Ereignisse immer noch so schwierig ist, darauf versucht Thelen eine Antwort zu geben. Sie ist Journalistin, aber auch studierte Politikwissenschaftlerin und Turkologin. Kurz gesagt, sie kennt sich aus und kann zudem erzählen und formulieren. Ja, es war ein Völkernord, das meint auch Thelen, wobei sie - wie ich meine zu Recht - der These von einer kumulativen Radikalisierung der Täter den Vorzug gibt.
Ihr eigentliches Thema aber ist der Umgang der modernen Türkei mit ihrer problematischen Vergangenheit. Das Land befinde sich seit einigen Jahren in einem Kulturkampf um die Deutungshoheit, begleitet von politischen Morden und politischer Justiz wie im Deutschland der Weimarer Republik. Tatsächlich waren die öffentlichen Reaktionen auf den Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink frappierend ähnlich wie 1922, als Walter Rathenau erschossen wurde. Hunderttausende gingen auf die Straße. Aber während das deutsche Pendel damals bald scharf nach rechts ausschlug, sieht Thelen die Türkei auf einem entgegen gesetzten Weg.
Ihre größte Hoffnung in diesem Kampf zwischen den Beharrungskräften und denen des Wandels sieht sie in der immer selbstbewusster werdenden türkischen Zivilgesellschaft. Neben dem staatlich verordneten Geschichtsbild hat sich dort eine inoffizielle Erinnerungskultur bewahrt und teils neu entwickelt, die zunehmend durch Bücher, Filme und Publizistik an die Öffentlichkeit drängt und dabei auch das Thema des Völkermords von 1915 nicht tabuisiert.
Dieses neu erwachte Interesse an der eigenen Vergangenheit ist in der Tat für jeden, der es in den letzten Jahren beobachtet hat, eine erstaunliche Angelegenheit. Und am Ende wahrscheinlich eine nachhaltigere als jede offizielle Resolution, deren Berechtigung damit nicht bestritten werden soll. Aber, so Thelen: "Geschichte kann den Menschen nicht nur verkündet werden."
Ein sehr anregendes Buch zu einem wichtigen Thema. Also bitte: lesen!
Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei
Wagenbach 2010, 94 Seiten, 9,90 Euro
Woher diese Empfindlichkeit? Woher diese sysiphosartige, stets gleiche Reaktion auf eine von der weitaus größten Zahl seriöser Historiker eindeutig beantwortete Frage?
Ja, es war ein Völkermord. Die im Ersten Weltkrieg mit den Osmanen verbündete deutsche Regierung sah das bereits so, auch wenn dieser juristische Völkerrechtsbegriff damals noch nicht existierte. Sie formulierte es, Anfang Juli 1915 so: Es sei offensichtlich das erklärte Ziel der Regierung in Istanbul, "die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten". Klare Worte des Botschafters Wangenheim an Kanzler Bethmann-Hollweg in Berlin, denen man heute - 95 Jahre danach - kaum etwas hinzufügen kann.
Wieso die Bewertung der Ereignisse immer noch so schwierig ist, darauf versucht Thelen eine Antwort zu geben. Sie ist Journalistin, aber auch studierte Politikwissenschaftlerin und Turkologin. Kurz gesagt, sie kennt sich aus und kann zudem erzählen und formulieren. Ja, es war ein Völkernord, das meint auch Thelen, wobei sie - wie ich meine zu Recht - der These von einer kumulativen Radikalisierung der Täter den Vorzug gibt.
Ihr eigentliches Thema aber ist der Umgang der modernen Türkei mit ihrer problematischen Vergangenheit. Das Land befinde sich seit einigen Jahren in einem Kulturkampf um die Deutungshoheit, begleitet von politischen Morden und politischer Justiz wie im Deutschland der Weimarer Republik. Tatsächlich waren die öffentlichen Reaktionen auf den Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink frappierend ähnlich wie 1922, als Walter Rathenau erschossen wurde. Hunderttausende gingen auf die Straße. Aber während das deutsche Pendel damals bald scharf nach rechts ausschlug, sieht Thelen die Türkei auf einem entgegen gesetzten Weg.
Ihre größte Hoffnung in diesem Kampf zwischen den Beharrungskräften und denen des Wandels sieht sie in der immer selbstbewusster werdenden türkischen Zivilgesellschaft. Neben dem staatlich verordneten Geschichtsbild hat sich dort eine inoffizielle Erinnerungskultur bewahrt und teils neu entwickelt, die zunehmend durch Bücher, Filme und Publizistik an die Öffentlichkeit drängt und dabei auch das Thema des Völkermords von 1915 nicht tabuisiert.
Dieses neu erwachte Interesse an der eigenen Vergangenheit ist in der Tat für jeden, der es in den letzten Jahren beobachtet hat, eine erstaunliche Angelegenheit. Und am Ende wahrscheinlich eine nachhaltigere als jede offizielle Resolution, deren Berechtigung damit nicht bestritten werden soll. Aber, so Thelen: "Geschichte kann den Menschen nicht nur verkündet werden."
Ein sehr anregendes Buch zu einem wichtigen Thema. Also bitte: lesen!
Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei
Wagenbach 2010, 94 Seiten, 9,90 Euro

Cover: "Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei"© Wagenbach