Megha Majumdar: "In Flammen"

Der Willkür ausgeliefert

Das Cover von Megha Majumdars Roman "In Flammen" ist in rot, orange, gelb und weiß gehalten. Es zeigt stilisierte Feuer.
© Piper Verlag

Megha Majumdar

Übersetzt von Yvonne Eglinger

In FlammenVerlag Piper, München 2021

336 Seiten

22,00 Euro

Von Victoria Eglau |
Ein Anschlag in Indien mit vielen Toten: Als eine junge engagierte Frau aus der Unterschicht in den sozialen Netzwerken die Regierung scharf kritisiert, gerät sie in die Mühlen einer korrupten Justiz. Wahrheit und Moral bleiben auf der Strecke.
Jivan lebt mit ihren Eltern in einem Slum der indischen Mega-Metropole Kalkutta. Von ihrem Lohn als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft hat sich die aufgeweckte junge Frau ein Smartphone gekauft. Als in einem Bahnhof am Rande der Armensiedlung ein Zug in Brand gesteckt wird und mehr als hundert Menschen sterben, verfolgt Jivan auf Facebook die Diskussionen über den Anschlag.
Sie teilt ein Video, in dem der Polizei vorgeworfen wird, den Opfern nicht geholfen zu haben. Schließlich schreibt sie selbst einen regierungskritischen Kommentar und postet ihn. "Ich schrieb etwas Gefährliches, etwas, das niemand, der wie ich war, jemals auch nur denken sollte, geschweige denn schreiben", lässt Megha Majumdar, Verfasserin von "In Flammen", ihre Romanfigur Jivan sagen

Protagonistin wird zum Sündenbock

Der Staat reagiert hart auf die Provokation: Jivan landet im Gefängnis. Niemand kann ihr etwas beweisen, aber angesichts ausbleibender Ermittlungserfolge nach dem Anschlag auf den Zug ist Jivan der ideale Sündenbock: Sie ist arm und gehört der diskriminierten muslimischen Minderheit in Indien an, sie hat als Kind mit ihren Eltern „Bomben“ aus Exkrementen auf die Polizei geworfen, als diese sie von ihrem Land vertrieb, und sie hat auf Facebook mit einem Mann gechattet, der Terroristen anwirbt – was Jivan allerdings nicht wusste. Doch die Medien und die Öffentlichkeit bilden sich rasch ein Urteil über die junge Frau: Sie glauben, dass sie mitschuldig an dem Brandanschlag ist, sie unterstellen ihr, dass sie die Täter durch die Gassen des Slums zum Bahnhof geführt hat.

Unbarmherzige Maschinerie

In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman "In Flammen" beschreibt die in Kalkutta geborene Harvard-Absolventin Megha Majumdar die Gesellschaft ihres Heimatlands als zutiefst ungerecht und unmoralisch. Jivan ist intelligent, selbstbewusst und hat Ehrgeiz, den sozialen Aufstieg zu schaffen.
Doch als ihr Facebook-Post sie zur Terrorverdächtigen macht, beginnt eine unbarmherzige Maschinerie gegen sie zu arbeiten, gegen die sie keine Chance hat. Die Öffentlichkeit will rasche Erfolge der Justiz sehen, das Rechtswesen wiederum ist Einflüssen der politischen Parteien unterworfen, die um Wählerstimmen buhlen. Um die Wahrheit geht es nicht. Da Jivan nicht zu den „Gutbetuchten“ gehört, hat sie weder nützliche Beziehungen noch einen effizienten Strafverteidiger. Die beiden Personen, die ihr vielleicht helfen könnten, lassen sich früher oder später selbst korrumpieren – durch die Aussicht auf Macht und Ruhm.

Große psychologische Tiefenschärfe

Die eine ist ein ehemaliger Lehrer Jivans, der Karriere in der Politik macht, die andere "Lovely", eine Transsexuelle, der Jivan einst Englischunterricht gab und die vom großen Durchbruch als Schauspielerin träumt. Indem Majumdar die drei Haupt-Protagonisten abwechselnd zu Wort kommen lässt, gelingt es ihr, die vielschichtigen Entwicklungen gut nachvollziehbar zu machen. Sie beschreibt ihre Figuren mit großer psychologischer Tiefenschärfe und bedient sich einer lebendigen, frischen Sprache – ganz ohne Pathos.
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