Indien und die afghanischen Flüchtlinge

Angst vor Infiltration

22:49 Minuten
Eine junge Frau, die von indischen Polizistinnen umringt wird, hält eine afghanische Flagge vor sich in die Höhe.
Das Leben für viele Afghaninnen und Afghanen in Neu-Delhi ist nach dem Sieg der Taliban in ihrer Heimat noch schwieriger geworden. © picture alliance / ZUMApress.com / SOPA Images / Manish Rajput
Von Antje Stiebitz · 03.01.2022
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Seit der Machtübernahme durch die Taliban bereiten Geflüchtete aus Afghanistan den Menschen in Indien Sorgen: Viele fürchten eine Infiltration, andere bangen um ihre Jobs. Und die afghanischen Flüchtlinge versuchen zu überleben.
Das „Great Quality Restaurant“ liegt mitten im sogenannten afghanischen Viertel von Neu-Delhi. In dieser Gegend, rund um die Kashmiri Park Road, leben zahlreiche Flüchtlinge aus Afghanistan. Auch der 30-jährige Mann, den ich Naveed Parso nennen soll, weil er anonym bleiben möchte. Zu groß ist seine Angst vor den Taliban.
„Wenn ich sage, dass sie mich ermorden werden, klingt das wie ein Klischee. Aber sie werden nicht zögern, mich zu töten. Und ich habe große Angst davor, dass sie es tun, mich umbringen“, erzählt er.

„Für die Taliban ist Kaschmir kein Tabu“

Der 30-Jährige hat Politikwissenschaften studiert und musste bereits 2016 nach Indien flüchten. Er sprach sich in Afghanistan öffentlich für Pluralismus aus und zog damit den Hass islamischer Fundamentalisten auf sich. Damals waren es nicht die Taliban, sondern lokale Extremisten, die ihn bedrohten. Mit der neuen Taliban-Regierung fühlen sich diese radikalen Kräfte zusätzlich ermutigt. Seitdem er in Indien lebt, hat er viel über die Kultur und Geschichte Indiens gelernt.

Viele von uns wurden von unseren Familien in Afghanistan unterstützt. Das fällt jetzt weg.

Naveed Parso

Zum Beispiel, was das Kaschmirtal für Indien bedeutet: „Gleich am Anfang, als die Taliban Kabul eingenommen haben, sagten sie, dass für sie Kaschmir kein Tabu ist. Das kann für Indien problematisch werden. Warum? Sie können als Terroristen über Pakistan nach Kaschmir kommen – wenn Pakistan das möchte.“
Die Taliban seien Marionetten der pakistanischen Regierung. Und Pakistan als Erzfeind Indiens werde alles tun, um die neue Taliban-Regierung gegen Indien in Stellung zu bringen, sagt er. Die Machtübernahme der Taliban Mitte August hat für ihn wie für alle anderen Afghanen das Leben in Indien sehr verändert.
In erster Linie wirtschaftlich: „Viele von uns wurden von unseren Familien in Afghanistan unterstützt. Das fällt jetzt weg. Andere haben bis zum Machtwechsel mit afghanischen Geschäftsleuten zusammengearbeitet, die zum Beispiel Trockenfrüchte nach Indien importieren. Sie haben ihre Arbeit verloren. Auch die Arbeit im indischen Gesundheitswesen, wo viele Afghanen gearbeitet haben, gibt es nicht mehr.“

Afghanen verloren ihre Jobs

Vor dem Regierungswechsel in Afghanistan kamen pro Tag 500 bis 600 Patienten nach Indien, um sich ärztlich behandeln zu lassen. Die in Indien lebenden Afghanen haben das medizinische Angebot vermittelt und als Übersetzer gearbeitet. Doch mit dem Machtwechsel wurde die Fluglinie Kabul-Delhi gekappt und damit verloren sie ihren Job.
Schätzungen zufolge leben rund 21.000 afghanische Flüchtlinge in Indien. Viele von ihnen in Delhi. Seit der Machtübernahme durch die Taliban haben laut der Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen, UNHCR, nur 736 Afghanen einen Flüchtlingsstatus in Indien angemeldet. Die meisten von ihnen waren bereits zum Zeitpunkt der Machtübernahme in Indien. Die unerwarteten Ereignisse in ihrer Heimat verhindern nun ihre Rückkehr.
Der Markt Lajpat Nagar wird auch als „Little Kabul“ bezeichnet. Hier arbeitet Rukshana in einer Travel Agency. Da die Kunden momentan wegbleiben, hat sie Zeit zum Reden. Sie fürchtet sich bis heute, auch in Indien, vor den Taliban – obwohl sie seit acht Jahren in Neu-Delhi lebt.
„Als ich 14 Jahre alt war, wurde ich von einem Taliban gezwungen, ihn zu heiraten“, erzählt sie. Damals kam ein 19-jähriger Taliban mit seiner bewaffneten Truppe zu Rukshanas Haus und erklärte ihrem Vater: Entweder du gibst mir deine Tochter oder ich bringe deine Familie um. Als die heute 25-Jährige das erzählt, fängt sie an zu weinen. Das Trauma sitzt tief.

Traumatisiert und bedroht

Rukshana sieht, dass ihr Schwiegervater mit Drogen handelt und ihr Ehemann drogenabhängig ist. Er schlägt sie, lässt sie hungern, sperrt sie ein. Sie bekommt ein Kind, eine Tochter. Sie flieht nach Kabul und erreicht vor dem Gericht eine Scheidung. Nach islamischem Recht ist die Scheidung jedoch ungültig und ihr Ehemann stellt ihr nach. Also flieht sie nach Indien, gemeinsam mit ihrer heute zehnjährigen Tochter. Doch auch in Indien wird sie bedroht.
„2019 hat mich ein Mann angegriffen. Ich habe Fotos gemacht von den Verletzungen an der Hand, am Oberschenkel. Bin zur Polizei gegangen, hier in Neu-Delhi, habe die Fotos mit meinen Verletzungen gezeigt, und auch die Drohnachrichten“, erzählt sie. „Aber der Polizist sagte nur, dass er findet, mir gehe es wieder gut und es nun nicht mehr nötig sei, dass ich mich beschwere.“
Vielleicht glaubte der Polizist das wirklich, vielleicht hatte er auch eine Drohung erhalten, niemand weiß es so genau. Rukshana erfährt später, dass ein Cousin den Taliban ihre persönliche Lage verraten hat. Seit dem Regierungswechsel ist ihre Angst gewachsen – vor ihrem Mann und davor, dass er ihr die gemeinsame Tochter wegnimmt.
Kurz nach der Machtübernahme der Taliban gingen die afghanischen Flüchtlinge in Indien auf die Straße. 15 Tage lang kampierten sie vor dem Büro der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Ihre Forderung: bessere Lebensbedingungen und den Transfer in sichere Drittstaaten.

Leben in einer Schattenwelt

„Ohne Papiere, ohne Geld, ohne Gesundheitsversorgung und Ausbildung, was werden die Flüchtlinge tun? Sie werden Diebe und begehen Straftaten“, sagt Ahmad Zia Ghani. Er ist Leiter des Afghanischen Solidaritätskomitees, das die Demonstrationen mit organisiert hat.
Als Flüchtling anerkannt zu werden und damit in ein Drittland ausreisen zu können, das dauert oft viele Jahre. Bis dahin leben die afghanischen Flüchtlinge in einer Schattenwelt: ohne Telefonkarte, ohne ein Konto, ohne die Möglichkeit, zur Schule zu gehen oder zu studieren.
„Ich habe bei den Treffen mit der indischen Regierung immer wieder gefordert, sie soll das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen dazu bringen, die muslimischen Flüchtlinge in andere Staaten zu bringen, wenn Indien sie nicht haben will“, sagt er.
Tatsächlich sind die afghanischen Flüchtlinge in Indien nicht willkommen. Sie sind Muslime – und gegen die macht Indiens Premierminister Modi seit seinem Amtsantritt 2014 Stimmung. Aber darum geht es nicht nur. Ahmad Zia Ghani weiß, dass viele Inder selbst ums Überleben kämpfen. Die gut bezahlten Jobs sind rar, eine sichere Existenz ist keine Selbstverständlichkeit.

Sozialer Neid auf afghanische Flüchtlinge

Amanpreet Singh öffnet die Wohnungstür. Der 34-Jährige ist Inder und lebt mit seiner Familie im dritten Stock eines Hauses, in einer Gasse des Bhogal Markts, wo auch zahlreiche afghanische Familien leben. Er arbeitet als Fahrer und Bürohilfe.
Bei einem Glas Tee auf der Wohnzimmercouch erzählt er, wie die Not der Flüchtlinge ausgenutzt wird und damit für alle die Kosten steigen. Obwohl seine Wohnung normalerweise 8000 oder 10.000 Rupien koste, müsse er jetzt 13.000 Rupien zahlen – unerschwinglich für ihn.
„Viele Afghanen sind bereit, zu zahlen, weil sie keine Dokumente haben, sondern nur ihren Flüchtlingsnachweis“, erklärt er. „Damit aber können sie keinen Mietvertrag bekommen. Also fragt der Vermieter nach einer Extrazahlung und verzichtet auf den Mietvertrag. Sie bekommen dann ein Blatt Papier, auf dem steht, welcher Nationalität sie sind, und dass sie bereit sind, diese Miete zu zahlen, dazu eine bestimmte Summe für Strom und eine bestimmte Summe für Wasser. So zahlen sie 15.000 Rupien für eine Wohnung, die eigentlich 8.000 oder 9.000 Rupien kostet.“
Der Konflikt ist vorhersehbar, denn die Eigentümer vermieten ihre Wohnungen lieber an die Afghanen. Während des Lockdowns in der Corona-Pandemie, erinnert sich Amanpreet Singh, habe er weder Miete noch das Schulgeld seiner Kinder zahlen können, weil sein Gehalt ausfiel. Aber die afghanischen Nachbarn schienen ohne Probleme durch die schwere Zeit zu kommen.
„Ich weiß nicht, woher sie das Geld bekommen – aber sie tragen teure Schuhe, gute Kleidung und haben teure Handys“, sagt er. Das schürt den sozialen Neid bei den Indern. Vor allem, wenn sie dann auch noch erfahren, dass die afghanischen Flüchtlinge von Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen finanziell unterstützt werden.

Hazara-Gemeinschaft leidet besonders

Ein Treffen der „Hazara Gesellschaft für Gerechtigkeit“ an einem Dezemberabend auf dem Bhogal Markt. Die Hazara sind eine Ethnie, deren Mitglieder traditionell um und in Afghanistan leben – und die von den Taliban verfolgt werden. Deren Sieg hat die ganze Gemeinschaft erschüttert.
Fünf Menschen sitzen zu eine Treffen zusammen.
Treffen auf dem Bhogal Markt: Die „Hazara Gesellschaft für Gerechtigkeit“ vermittelt Hilfe für die Menschen der verfolgten Ethnie.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Die 30-jährige Zakia Ahmady hat sich bis heute nicht davon erholt: „Ungefähr eine Woche war mein Körper völlig betäubt. Ich habe einfach nicht verstanden, was da passiert ist. Unsere Hazara-Minderheit erlebt seit Langem einen Genozid, aber in den letzten Jahren fand ich die Situation okay. Und nun das!“
Aminulla Yosofi ist Direktor der Gesellschaft und spricht persisch. Ihm ist es wichtig, zu erklären, wie die Hazara Gesellschaft arbeitet. Zakia Ahmady sitzt neben ihm und übersetzt.
Die Gesellschaft vermittelt zwischen dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen und den Hazara. Außerdem sucht sie für ihre Landsleute nach Arbeit – gerade hat sie einige Jobs angeboten bekommen, erzählt der 32-jährige Aminulla Yosofi. Nun legten sie eine Liste von Gemeindemitgliedern an, die einen Job brauchen. Zudem stellt die Gesellschaft Kontakt zu wohltätigen Organisationen her. Heute habe eine Botschaft gespendet – er zeigt auf die Taschen mit Kleidern und Dutzende von Spülmittel-Flaschen, die in einer Ecke stehen. Was immer sie bekommen, verteilen sie an Bedürftige aus ihrer Gemeinde.

Sicherheitstreffen in Indien ohne Pakistan

Als Indien am 10. November 2021 den regionalen Sicherheitsdialog zu Afghanistan in Delhi eröffnet, sind Russland, Iran, Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan anwesend. Pakistan fehlt. Vorherrschendes Thema der Konferenz: Wie können die Nachbarn Afghanistans verhindern, dass Afghanistan die globale Brutstätte des islamistischen Terrors wird?
„Indien versucht, seine Politik mit anderen Ländern abzustimmen“, sagt Constanino Xavier, Experte für Außenpolitik und Sicherheitsfragen. Er arbeitet am Zentrum für Sozialen und Ökonomischen Fortschritt in Delhi. Indien habe in den letzten 20 Jahren rund zwei Milliarden Dollar in ein demokratisches Afghanistan investiert. Und fürchte nun, dass die neue Regierung zu Terror ermuntere und Indien isoliere. Indien sei weniger als Europa, Russland oder China daran interessiert, mit den Taliban zu verhandeln.
„Indien wartet ab und beobachtet, wie sich die Dinge entwickeln“, erklärt Constantino Xavier. „Das Land hat keine Eile, die Taliban anzuerkennen und muss keine grundlegenden ökonomischen Interessen verteidigen. Indien hat Angst vor dem Terror und muss abwarten, ob dieser es trifft oder nicht.“
Verübten die Taliban Terroranschläge in Kaschmir oder in indischen Großstädten, so der Sicherheitsexperte, dann könnte das Land Mittel einsetzen, die es bereits 1996 erprobte, als die Taliban Kabul übernahmen.
„Dann sucht Indien die Unterstützung der afghanischen Minderheiten. Insbesondere die Tadschiken, die Hazaras und Usbeken in Nord- und Zentralafghanistan sind mit Indien freundschaftlich verbunden“, sagt er.
Dabei handele es sich allerdings um das letzte Mittel der Wahl, weil es zu Bürgerkrieg in Afghanistan führen würde.

„Die Lage ist für Indien nicht neu“

Ich rufe Arun Kumar Singh an, einen Mann, der über zehn Jahre die Beziehungen zu Pakistan und Afghanistan für Indien geführt hat. Denn von der indischen Regierung möchte niemand mit mir darüber sprechen, was die neue Taliban-Regierung für Indien bedeutet. Arun Kumar Singh ist kein Regierungsbeamter mehr, berät den Nationalen Sicherheitsrat aber extern.
„Diese Lage ist für Indien nicht neu. Wir waren bereits vor dem 11. September 2001 mit der gleichen Situation konfrontiert. Indien wird damit genauso umgehen, wie zwischen 1996 und 2002“, sagt er.
Damals unterstützte die indische Regierung die multiethnisch zusammengesetzte Nord-Allianz, die gegen die Taliban kämpfte – logistisch, medizinisch und militärisch. Dass nun ausgerechnet das militante islamistische Haqqani-Netzwerk die afghanische Regierung dominiere, findet Arun Kumar Singh bedenklich. Die Haqqanis waren beispielsweise 2008 für den Anschlag auf die Indische Botschaft in Kabul verantwortlich, bei dem 58 Menschen starben. Arun Kumar Singh betont, dass die von Afghanistan ausgehende Terrorgefahr aber nicht nur für Indien gelte, sondern weltweit.
Deshalb fordert er: „Es ist wichtig, dass die Länder der Welt nach der Legitimität der Regierung in Afghanistan fragen, bevor sie mit ihr in engere Verhandlungen treten.“
Mitte Dezember jedenfalls startete aus Delhi wieder ein Flugzeug nach Kabul. Beladen mit medizinischen Artikeln. Außerdem wurden 104 Inder und Afghanen aus Kabul nach Indien evakuiert. Und: Indien hat eine Ladung von 50.000 Tonnen Weizen nach Afghanistan angekündigt. Da der Transport des Getreides auf dem Landweg abgewickelt werden soll, verhandelt das Land gerade mit Pakistan.

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