Martin Mittelmeier: „Freiheit und Finsternis“

Dialektik als Kitsch und Heilsversprechen

07:29 Minuten
Das Cover von Martin Mittelmeier: "Freiheit und Finsternis"
Martin Mittelmeier setzt sich mit der „Dialektik der Aufklärung“ auseinander. © Deutschlandradio / Siedler
Von Andrea Roedig · 15.11.2021
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Kann ein philosophisches Buch plausibel sein, obwohl es kein einziges Argument enthält? Dem Klassiker „Dialektik der Aufklärung“ gelingt das, und Martin Mittelmeier fragt sich, warum es funktioniert.
Die "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ist ein Klassiker und ein Kultbuch. Zwischen 1941 und 1944 im amerikanischen Exil entstanden, erwähnt es den Holocaust mit keinem Wort und handelt doch nur von ihm, es erzählt die Gewaltgeschichte des Bürgertums als Unterdrückung der Natur und entwickelt die These, dass Aufklärung immer auch in Mythos umschlägt. Obwohl das Buch Fragment blieb, wurde es später zu einem der Grundlagentexte kritischer Theorie und übte auf Generationen von Geisteswissenschaftler:innen – einer unter ihnen war Martin Mittelmeier – eine eigenartige Faszination aus. Doch argumentiert wird hier nicht, nur behauptet. Die Sätze stehen da wie hammerhart in Stein gemeißelte Anklagen. Woher nimmt die "Dialektik der Aufklärung" eigentlich ihre Autorität?

Den Schrecken erzählen

Um das zu beantworten, geht Martin Mittelmeier auf die die Entstehungsgeschichte des Textes zurück, und große Teile von "Freiheit und Finsternis" handeln vom Umzug Instituts für Sozialforschung, dessen Direktor Horkheimer war, nach Los Angeles. Erzählt wird auch von der illustren Westküsten-Exilgemeinschaft in Pacific Palisades – Berthold Brecht, Hanns Eisler und Thomas Mann waren Nachbarn – von Freundschaften, Affären und Animositäten untereinander, denn Adornos Eitelkeit war für manche Zeitgenossen schwer zu ertragen.
Horkheimer glaubte aber, nur mit Hilfe von Adornos Sprachgenie ausdrücken zu können, worum es ging: Eine Analyse der Gegenwart, die die historischen Zusammenhänge zwischen Naturbeherrschung, Kapitalismus, Bürgertum und Faschismus erklären kann. Die "Philosophischen Fragmente", wie sie anfangs hießen, entstanden zum Teil aus diktierten Gesprächen oder einzeln verfassten Textpassagen, die der jeweils andere Autor überarbeitete und kommentierte. Dass Frauen hier, allen voran Gretel Adorno, ganz selbstverständlich als Sekretärinnen fungierten, erwähnt Mittelmeier und zeigt an Beispielen auch, wie stark Adorno Sätze zuspitzte, bis sie ihren spezifischen "Sound" bekamen und einem "dialektischen Bild" entsprachen. Die Methode ging auf Walter Benjamin zurück und bedeutete, konkrete gesellschaftliche Phänomene so darzustellen, dass ihre Widersprüche sichtbar werden oder – adornitisch gewendet – den Schrecken so schrecklich zu erzählen, bis ein Funke Hoffnung in ihm aufscheint.

Vor der Erlösung

Die "Dialektik der Aufklärung" ist ein durch und durch pessimistisches Buch, das überall die Katastrophe sieht. Das ist der Zeit geschuldet, aber auch der Methode. Mittelmeier mahnt an, dass ein positiver Ausblick fehle, eine Überarbeitung nötig gewesen wäre, aber er bleibt in seinem Urteil versöhnlich: Der Text sei "große Sprachmusik". Seine Plausibilität gewinne er als "Komposition", man müsse ihn begreifen wie eine begehbare Installation. Das stimmt, doch wenn Mittelmeier formuliert, der Holocaust fungiere bei Adorno als "die letzte Etappe vor der Erlösung", wird klar, was dieses Kultbuch auch ist: großer dialektischer Kitsch. Dieses kritische Fazit zieht Mittelmeier leider nicht.

Martin Mittelmeier: "Freiheit und Finsternis. Wie die ‚Dialektik der Aufklärung‘ zum Jahrhundertbuch wurde"
Siedler, München 2021
318 Seiten, 24 Euro

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