Adorno-Anleitung für die Nebensaison

28.10.2013
Adorno wird noch immer gelesen und diskutiert, aber es wird dabei nicht mehr so heiß. Diese Ruhephase nutzt Martin Mittelmeier, um eine Gegend gründlich zu erkunden, die möglicherweise bestimmend war für das Denken des Philosophen: Süditalien.
Wollte man versuchen, die gegenwärtige Lage der Adorno-Rezeption mit dem geläufigen Vokabular der Tourismusbranche zu fassen, wäre wohl der Begriff "Nebensaison" am passendsten. Die Nebensaison nutzt Martin Mittelmeier, der sein Buch "Adorno und Neapel" als eine Art Philosophie-Baedeker versteht, um Adornos Denkgebäude genauer zu erkunden. Das Hauptaugenmerk legt er bei dieser Reise - sie konzentriert sich auf den Golf von Neapel - auf die "strukturelle Materialität" von Adornos Texten. Gezeigt werden soll, wie die süditalienische Landschaft Eingang in Adornos Philosophiegebäude gefunden hat.

Es erweist sich als ein Glücksfall, dass noch andere Ausnahmedenker in und um Neapel weilten, als Adorno und sein älterer Freund Siegfried Kracauer, Redakteur der Frankfurter Zeitung, im Herbst 1925 Neapel erreichten. Adorno ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt und bestehe, so hat es Kracauer formuliert, nur aus Lukacs und ihm, Kracauer. Auf Capri hält sich gerade Walter Benjamin auf, der dort Asja Lacis kennengelernt hat, und auch Alfred Sohn-Rethel, der sich gerade in intensive Marx-Studien vertieft hat, ist anwesend. Von den Diskussionen, die die Intellektuellen führen, berichtet Adorno in zwei Briefen an den Musiker Alban Berg. Die Rede ist von "einer philosophischen Schlacht", die der etwas "überartikulierte" Adorno mit Walter Benjamin geführt habe, aus der er nach eigener Auffassung unbeschadet hervorgegangen sei.

Neapel, das zeigt Mittelmeier in der ersten Hälfte seines Buches überzeugend, prägt sich den Intellektuellen nicht nur landschaftlich ein, sondern sie verarbeiten das Gesehene und Erlebte in eigenen Texten. Walter Benjamin und Asja Lacis verfassen einen mit "Neapel" überschriebenen Aufsatz, der im August 1925 erscheint. Zentral ist in dem Denkbild der Begriff der Porosität. Er geht zurück auf das poröse Tuffgestein, bei dem es sich um erkaltete Lavamasse des Vesuvs handelt. Bei einem Vulkanausbruch wird Magma in die Luft geschleudert und erkaltet. Zurück bleibt ein Gestein, das Hohlräume aufweist. Dieses Gestein, hat eine Verwandlung durchgemacht, wobei sich flüssiges Magma in festes, löchriges Gestein verwandelt. Neapel zeichne sich - so Benjamin und Lacis - durch diese Wandlungsfähigkeit aus. Auch Kracauer schreibt verschiedene Feuilleton-Texte, die sich dem Neapel-Aufenthalt verdanken, und Sohn-Rethels Neapel-Erfahrungen gehen in den Text "Ideal des Kaputten" ein.

Für Adorno wird die Sehnsuchtslandschaft zum "Quellcode" seiner Schriften. Sie kreisen allerdings nicht um das Löchrige. Adornos Philosophie konzentriert sich vielmehr auf das Kraterloch des Vesuvs selber. Nach seiner Überzeugung wandelt die Menschheit am Rande dieses Kraterlochs. Der Eindruck wird durch den Holocaust bestätigt. Auschwitz steht als Name für die Katastrophe, die nicht als Naturgewalt über die Menschheit hereingebrochen ist. Wie sich diese Erfahrung in Adornos Werk manifestiert, das entwickelt Mittelmeier, ausgehend von Adornos Schubert-Aufsatz bis zur gemeinsam mit Horkheimer geschriebenen "Dialektik der Aufklärung", äußerst beeindruckend und sehr inspirierend.

Besprochen von Michael Opitz

Der Philosoph Theodor W. Adorno auf einem Archivbild vom 10. Sept. 1968
Der Philosoph Theodor W. Adorno© AP Archiv
Martin Mittelmeier: Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt
Siedler Verlag, München 2013, 303 Seiten
22,99 Euro
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