Martin Hecht: "Die Einsamkeit des modernen Menschen"

Wie Selbstoptimierung die Demokratie bedroht

13:26 Minuten
Eine Frau sitzt mit Laptop und Kopfhörern am Fenster eines Cafés.
In der Moderne entwickeln sich die Menschen zu immer mehr Selbstbezogenheit, erklärt der Politikwissenschaftler und Journalist Martin Hecht. © imago / Levine-Roberts / Richard B. Levine
Martin Hecht im Gespräch mit Shelly Kupferberg · 12.06.2021
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Individualismus sei zu Selbstbezogenheit geworden, sagt der Politologe Martin Hecht. In seinem Buch schreibt er über den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und bedrohter Demokratie. Fehlende Anerkennung könne zu Radikalisierung führen, so seine These.
Shelly Kupferberg: Gesellschaftlicher Zusammenhalt, was macht ihn aus, wodurch entsteht er? Das ist eine der Fragen, die schon seit vielen Jahren auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen diskutiert werden hierzulande, und es scheint dazu Anlass zu geben. Das beobachtet auch der Politikwissenschaftler und Journalist Martin Hecht. Er fragt sich in seinem gerade erschienenen Buch nicht nur, was moderne Einsamkeit ausmacht, sondern auch,zu sie führen kann. Der Titel lässt es bereits erahnen, der lautet nämlich "Die Einsamkeit des modernen Menschen: Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht".
Zunächst lassen Sie uns auf diesen Begriff der Einsamkeit eingehen, den erläutern Sie in Ihrem Buch und meinen die Einsamkeit in der Vereinzelung. Woher rührt denn diese Einsamkeit, die Sie beschreiben, und wie drückt sie sich vor allem aus?
Martin Hecht: Die kommt von der Entwicklung des Individuums in der Moderne, die zu immer mehr Selbstbezogenheit führt. Wir sind im Laufe dieser Individualisierung – das ist das Stichwort – befreit, drehen uns aber unweigerlich und immer mehr, je mehr es an die Gegenwart geht, um uns selbst. Das macht uns selbstbezogen, vielleicht auch selbstbefreit, oder wir entfalten uns auch selbst, aber wir werden ziemlich einsam dabei.
Das ist eine Entwicklung, die in der Renaissance losgeht. Das ist die Individualisierung, eine wunderschöne Entwicklung, die den Menschen befreit hat, die ihn aber eben auch in eine gewisse Kälte geführt hat. Denn die Freiheit, die er sich erkämpft hat, die kann mitunter ziemlich zugig sein.
Kupferberg: Es ist wahr, wir leben in einem extrem individualistischen Zeitalter. Sie führen das tatsächlich zurück auf die Renaissance und zeigen uns im Buch mehrere Meilensteine und Denker dazu auf. Dennoch, Stichwort Selbstverwirklichung: Kennen wir alle – zumindest in den letzten 30 Jahren ist das ein wichtiger Begriff und auch zum Synonym von Zufriedenheit, Satisfaktion, Lebenserfüllung geworden. Was ist denn dagegen einzuwenden, warum macht uns das einsam?
Hecht: Ich glaube, dass die Selbstverwirklichung oder Selbstentfaltung mittlerweile zu einer Selbstoptimierung verkommen ist, wollte ich fast sagen. Das heißt, sie hat durchaus schädliche Seiten, weil wir uns so sehr um uns drehen und nicht nur uns verwirklichen, sondern sehr darauf aus sind, dass wir für die Art, wie wir uns verwirklichen, auch permanent wertgeschätzt werden wollen. Wir wollen Applaus haben, wir wollen soziale Anerkennung.
Diese Aufmerksamkeit ist ein rares Gut geworden in der Massendemokratie. Es gibt viel mehr Menschen, die eher die Erfahrung machen, dass sie für ihre Individualität, so sie sie denn entfaltet haben, nicht geschätzt werden, sondern ignoriert werden. Dieser Liebesentzug frustriert. Meine Beobachtung ist, dass dieses Schielen auf die Resonanz und auf das Echo und das Ausbleiben derselben durch die Gesellschaft, dass das Menschen frustriert und letztendlich dann auch zu Protestaktionen treibt, woraus sich dann schon der Weg in die Radikalisierung am Abzeichnen ist.

Kapitalismus und Einsamkeitsgefühle

Kupferberg: Individualismus und Kapitalismus, so schreiben Sie, sind unzweifelhaft die beiden großen Potenzen unserer Zeit, die mit maximaler Wirkungskraft auf die Seele des modernen Menschen einwirken. In welcher Gestalt?
Hecht: Fangen wir mit dem Kapitalismus an: Da hat schon der große Max Weber geschrieben, dass dem Kapitalismus ein vereinsamender Zug innewohnt. Das erkennt man daran, wenn man sich den unermüdlich arbeitenden Kaufmann vor Augen hält, der morgens in seinem Kontor steht, ackert und versucht, am Abend eine bessere ökonomische Bilanz zu haben als am Morgen. Das ist ein relativ einsames Geschäft, früher noch unterfüttert mit dieser Leistungsethik, dass er auch dafür in den Himmel kommt.
Das ist heute säkularisiert, trotzdem gibt es die Ethik auch noch. Wir sind effizient, wir kurbeln dauernd an diesem Rad, weil das eine Beschäftigung mit uns selbst ist. Als Einzelkämpfer in dieser großen Marktwirtschaft werden wir einsam dabei. Das ist die Erklärung, warum der Kapitalismus, der als Wirtschaftssystem nicht auf Kooperation abzielt, sondern auf den Erfolg des Einzelnen im Wettbewerb mit anderen, das ist eine relativ einfache Gedankenfigur, warum so ein System notgedrungen zu Einsamkeitsgefühlen führen muss.
Wenn Sie fragen, wie ist das mit dem Individualismus, dann ist es vielleicht auch noch mal ein Schritt zurück. Das Problem ist, dass je mehr sich das Ich befreit und zu sich selbst findet, ist das erkauft durch einen Verlust an Wir-Identitäten.
Wenn Sie sich die traditionelle Gesellschaft anschauen mit ihren Institutionen, mit ihren Verbänden, mit ihren Kooperationen, fällt das Individuum im Verlauf der Moderne heraus. Man kann wirklich sagen, es ist wie eine Waage: Je mehr Selbstbezogenheit entsteht, umso weniger Bindungsfähigkeit, Bindungswilligkeit der Einzelnen, die Wir-Identität wird zurückgedrängt. Sie wird verloren auf Kosten der Ich-Identität. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt letztendlich, weil es die Individuen, wo sie so sehr mit sich selbst beschäftigt sein lässt, dass das andere zusehends weniger Raum hat.

Auffallen statt vernünftiger Argumente

Kupferberg: Auch anhand der Debattenkultur oder -unkultur zeigen sich diese Phänomene. Da werden ungehemmt schädliche Dinge ausgesprochen, beobachten Sie. Umgekehrt gefragt, sind Sie für Denkverbote?
Hecht: Nein, das bin ich nicht, aber ich glaube, in der Debattenkultur kann man zum Beispiel sehen, wie sich Individualismus als Ich-Entfaltung mittlerweile entwickelt hat in eine Richtung, in der es nicht mehr darum geht, ich zu sein, sondern sich abzusetzen, sich bemerkbar zu machen, sich sozusagen zu zeigen, zu posen, zu performen, aufzufallen.
Das vernünftige Argument ist etwas, was immer mehr zurückgedrängt wird. Wir haben stattdessen Leute, die zuspitzen mit vielleicht der kalkulierten Absicht, dadurch in eine Talkshow zu kommen. Ob das nun Boris Palmer ist oder Thilo Sarrazin, Henryk Broder oder auch, mir fällt Herr Fleischhauer mit seinen kühnen Kolumnen ein, die immer darauf abzielen, zu provozieren.
Dieser Aspekt, dass es nicht mehr drum geht, was ist das gemeinsame Gute, was wir erreichen wollen, sondern wie kann ich einen ganz pointierten Auftritt hinlegen, der mir Aufmerksamkeit sichert. Das ist eine, man kann fast sagen, Sozialpathologie oder eine sozialpathologische Erscheinung des Individualismus in der Gegenwart.

Maximaler Zusammenhalt im Privaten

Kupferberg: Wo bleiben in Ihrer Analyse dann Plätze für so etwas wie Solidarität, Zusammenhalt, kann es die so gar nicht geben?
Hecht: Die gibt es schon noch, die Plätze werden aber weniger. Der Common sense schwindet und auch die Bindekraft schwindet aus genannten Gründen. Interessant ist zu beobachten, was schon der gute Alexis de Tocqueville beobachtet hat: Der Zusammenhalt verschiebt sich ins Private. Das heißt, es sind nicht nur Individuen, sondern es ist auch der private Kreis, denn dort ist der Zusammenhalt maximal, aber darum drumrum wird eine Mauer gezogen.
Das heißt in die Gesellschaft rein, da trocknet der Zusammenhalt aus, da verdorrt er sozusagen. Das Private ersteht in unserer Zeit sehr stark auf. Es ist nicht so, dass es ganz verloren geht, sondern ad hoc gibt es schon immer diese Solidaritätsausbrüche oder Zusammenhaltserlebnisse.
Das geschieht in der Krise, das geschieht bei gemeinsamen Zielen, die Bewegungen schaffen – denken Sie an Fridays for Future oder die Europameisterschaft, wenn man feiert. Also es gibt verschiedene Anlässe, wo es schon dieses Zusammenhaltsgen gibt, aber es ist nur noch ein ereignisbezogenes und kein durables.

Schädliche Irrform des Individualismus

Kupferberg: Unter welchen Umständen gehen die Prämisse des Individualismus und der Solidarität wirklich miteinander Hand in Hand oder schließt das eine das andere per se aus?
Hecht: Nein, der Individualismus ist nicht der Gegner der Solidarität, sondern der falsch verstandene Individualismus ist es. Was wir heute beobachten, ist überhaupt kein Individualismus im eigentlichen Wortsinne. Es ist eher so, dass Menschen sich an einer von der Gesellschaft definierten Form des Individualismus orientieren und nicht mehr an wirklicher Selbstbezogenheit.
Man staffiert sich aus mit Statussymbolen, mit einem prestigeträchtigen Lebensstil, investiert enorm in Konsum, Lifestyle und Dinge, die gar nichts mit wirklicher Individualität zu tun haben. Aus diesem Grund ist es nicht der Individualismus, sondern eben diese Irrform, die ich immer häufiger oder immer verbreiteter sehe, die da den Schaden anrichtet.
Wäre es nämlich andersrum so, dass sich Menschen tatsächlich auf sich bezögen, auf ihren Willen, auf die Art, was sie wollen und wie sie leben wollen, würden wir in einer Gesellschaft leben, die nicht so viel geschmeidige Karrieristen und Selbstoptimierer hat, sondern sie würde freundschaftsfähiger. Die Individuen würden sich besser gegenseitig erkennen und somit auch in ihrer Andersartigkeit erkennen. Das würde einen neuen Kitt geben.

Krise bringt sozialen Kitt

Kupferberg: Soziologen stellen fest, genau an diesem Kitt fehlt es hierzulande – der gemeinsame Strang, an dem wir ziehen könnten. Welcher könnte das sein, was würde sich da anbieten?
Hecht: Corona ist für mich ein gutes Beispiel. Ich glaube, wenn es Probleme in einer Gesellschaft gibt, dann erinnern sich viele an das soziale Gen. Ich bin in den letzten Tagen oft darauf angesprochen worden, inwiefern ich denke, dass Corona Einsamkeit verstärkt hat. Man denkt immer, es ist naheliegend.
Ich denke, es ist ambivalent. Die Beobachtung, die ich mache, ist, Corona hat auch eine neue Verbundenheit entstehen lassen, einen neuen Kitt zwischen den Menschen. Wenn man draußen sitzt in diesen Tagen, was man jetzt wieder kann, und sich miteinander unterhält, auf einmal entdeckt man verbindende Themen – wie geht’s dir damit, wie geht’s dir mit der Maske, wie geht’s dir mit dem Test –, man kommt mit Menschen ins Gespräch.
Und das ist eine alte Beobachtung: Wenn Dinge gefährdet sind, wenn ein Gut gefährdet ist, dann rücken Menschen enger zusammen. Das können Sie auch bei Lawinenunglücken sehen oder das können Sie sehen bei Überschwemmungen, da regt sich sozusagen automatisch dieses Gen – es ist nur verschüttet und es ist nicht weg, es steckt in uns drin und es muss sich entfalten können. Ich glaube dennoch, ein Relaunch des richtigen, des wahren Individualismus, das ist eine Geschichte des Bewusstseins. Wenn wir dort ankommen würden, würde sich der soziale Kitt wie von selbst wieder einstellen.

Zurück zum Kern des Menschseins

Kupferberg: Sind Sie optimistisch oder sagen Sie, wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht, wie es im Untertitel des Buches heißt, das kann nicht gut gehen?
Hecht: Ich bin schon optimistisch, weil ich glaube, dass sich die Selbstoptimierungsspirale und dieser Status, dieses Posen, dieses Performen, dieses Winnen – es gibt nur noch Winner bei uns in der Gesellschaft –, dass sich die Faszination an diesen Bildern irgendwann auch totläuft; und dass Menschen wieder an den Kern des Menschseins, zu Humanität, zu sozialem Zusammensein zurückkommen und sich an diese Dinge eher erinnern und orientieren.
Ich sage Ihnen auch warum: Weil sie stärker sind als diese aufgesetzten Schablonen, das ist das Wichtigere. Und weil das das Schönere ist, glaube ich, dass sich Menschen langfristig danach sehnen werden und sich dies dann auch wieder durchsetzen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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