Gernot und Rebecca Böhme: "Über das Unbehagen im Wohlstand"

Die Kehrseite des Optimierungswahns

05:56 Minuten
Das Gesicht eines Mannes ist mit Zetteln beklebt, auf denen Hinweise wie "Workout" oder "Take a Break" notiert sind.
Selbstoptimierung ohne Wenn und Aber? © Unsplash / Luis Villasmil
Von Kira Meyer · 06.06.2021
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Gibt es ein "richtiges Leben im falschen"? Durchaus, schreiben Gernot und Rebecca Böhme in ihrem gemeinsamen Buch: Wer das "Große Ganze" ändern will, muss bei sich selbst im Privaten anfangen – mit Ziellosigkeit statt Leistungsideologie.
Fühlen Sie sich auch manchmal unwohl und gestresst? Und das, obwohl es Ihnen doch ‚eigentlich‘ gut geht? In ihrem Freundes- und Verwandtenkreis bekamen der emeritierte Philosoph Gernot Böhme und die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme darauf häufig ein ‚Ja‘ zu Ohren. Was sind aber die Ursachen für dieses Unbehagen, das ein sonst glückliches Leben wie ein bitterer Beigeschmack begleitet? Dieser Frage gehen Sie in ihrem Buch "Über das Unbehagen im Wohlstand" auf den Grund.

"Da müssen wir natürlich nach den verschiedenen Dimensionen fragen, die uns so in den Druck bringen", sagt Gernot Böhme, "das heißt vor allem die Steigerungsdimensionen: Also Leistungsgesellschaft, Technisierung. Das Unbehagen hängt ja in allen Dimensionen mit der Wachstumsideologie zusammen."

Wenn Freizeit zur Leistung wird

In ihrem Buch kritisieren Vater und Tochter die Dynamiken des Kapitalismus und zeigen dessen destruktive Wirkungen bis in unsere Privatleben auf. Ob beim Wellness-Retreat, im Urlaub oder in der Paarbeziehung: Durch eine fruchtbare Verbindung von philosophischer Reflexion und neurobiologischen Studienergebnissen legen sie offen, wie sich selbst dort, wo es eigentlich um Entspannung, Muße oder Geborgenheit gehen sollte, der Leistungsgedanke und die Ideologie des Individualismus breitgemacht haben und ihre Wirkung entfalten.
"Die Internalisierung des Leistungsprinzips besteht darin, dass man sich im Lebensvollzug nicht mehr aufhält, ihn vielmehr im Blick auf ein Resultat absolviert. Freizeit als Leistung, Sex als Leistung, Kultur als Leistung", schreiben sie im Buch.
Stress wird damit zur "Grundqualität des Lebens" und zur Ursache des Unbehagens. Doch im Verspüren eben dieses Unbehagens ist bereits ein möglicher Ausgang aus diesem angelegt, sagt Rebecca Böhme: "Ich würde sagen, dass eine erste Quelle des Erkennens eben dieses Unbehagen sein kann, das bei vielen Menschen mitschwingt im alltäglichen Leben und Vollzug. Wenn man sich dieses Unbehagen bewusst macht, dann wird man anfangen, zu reflektieren, wo kommt denn das her, was sind denn die Ursachen dafür."

Einfach mal im Kreis laufen

Doch mit der bloßen Erkenntnis stellt sich das richtige Leben noch nicht von alleine ein. Dazu muss das Einüben von anderen Lebensvollzügen kommen, also eine Verankerung in der alltäglichen Praxis. Das heißt: Beim Spazieren mal kein konkretes Ziel ansteuern und stattdessen einfach mal im Kreis laufen. Oder es mit Meditation versuchen und dabei im "puren Dasein" ein "Glück ohne Glücksgüter" erfahren.
Das richtige Leben im falschen – es ist also möglich, so die AutorInnen. Dass die umgebenden Bedingungen dabei falsch sind, dessen sind sie sich durchaus bewusst: "Unsere Lebenswelt entspricht in vielem nicht unseren natürlich-menschlichen Bedürfnissen. Es müsste sich eigentlich etwas ‚im Großen und Ganzen‘ ändern. Doch der Einzelne kann dies nicht abwarten – uns bleibt nichts anderes übrig, als ‚das Beste draus zu machen‘. Dafür benötigen wir Strategien, die uns unabhängig von den Bedingungen der Zeit, in die wir hineingeboren wurden, Glück erfahren lassen."

Nichtsdestotrotz hoffen Gernot und Rebecca Böhme, dass über den Weg der Veränderungen im Kleinen langfristig auch eine Revision der großen gesellschaftlichen Strukturen folgen könnte: "Die Änderungen im Großen könnten ins Leere laufen, wenn sie nicht mit einer Veränderung der Lebensformen verbunden wären. Insofern setzen wir sehr wohl auch am Großen und Ganzen ein", versichert Gernot Böhme, "aber von der Sache, die leider am allermeisten vernachlässigt wird. Es gibt ja so viel Gesellschaftskritik – und was ändert sie, nichts."
Buchcover: "Über das Unbehagen im Wohlstand" von Gernot Böhme und Rebecca Böhme
In "Über das Unbehagen im Wohlstand" kritisieren Vater und Tochter die Dynamiken des Kapitalismus und zeigen dessen destruktive Wirkungen bis in unsere Privatleben auf.© Deutschlandradio/Suhrkamp

Das Unbehagen fruchtbar machen

Doch obwohl es ihr erklärtes Ziel ist, den LeserInnen mit lebensnahen Empfehlungen zu etwas mehr Behaglichkeit zu verhelfen, kippt ihr Buch nie ins bloß Behaglich-Bequemliche. So heben sie beispielsweise die fruchtbaren Seiten des Unbehagens hervor und wollen es daher auch nicht gänzlich aus der Welt schaffen, so Rebecca Böhme: "Man kann sicher das Unbehagen nicht immer loswerden und das sollte vielleicht auch nicht das Ziel sein, denn wenn alle sich behaglich fühlen, kommt ja auch nicht eine Änderung im Großen und Ganzen. Aber dass man sich so Möglichkeiten und Fenster schaffen kann, in denen man für sich das Unbehagen für eine Weile loswerden kann."
Mit ihrem Buch zeigen Gernot und Rebecca Böhme überzeugend auf, weshalb die Gleichsetzung von Wohlstand und Wohlergehen nicht mehr aufgeht und was jede Einzelne von uns tun kann, um den bitteren Beigeschmack des Unbehagens loszuwerden. Beim nächsten Spaziergang also vielleicht einfach mal ohne Ziel drauf loslaufen – und damit einen ersten Schritt zum richtigen Leben tun.

Gernot Böhme, Rebecca Böhme: "Über das Unbehagen im Wohlstand"
Suhrkamp, Berlin 2021
221 Seiten, 16 Euro

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