Marie Gamillscheg: „Aufruhr der Meerestiere“

Die Untiefen von Ozean und Familie

05:59 Minuten
Aufruhr der Meerestiere von Marie Gamillscheg
© Luchterhand Verlag

Marie Gamillscheg

Aufruhr der MeerestiereLuchterhand, München 2022

304 Seiten

22,00 Euro

Von Änne Seidel |
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Als Meeresbiologin wagt Luise sich in unbekanntes Terrain. Eine ungeliebte Quallenart ist der erfolgreichen Wissenschaftlerin näher als ihr eigener Vater. Doch auch die familiären Abgründe verlangen, erforscht zu werden.
Die Meerwalnuss ist eine Plage, finden die Menschen. Sie haben der Quallenart zwar einen hübschen Namen verpasst, könnten aber eigentlich gut auf sie verzichten: Denn die durchsichtigen Tiere fressen den Fischen das Futter weg, vermehren sich ohne Ende und machen das Meer so schleimig, dass Tourist*innen nicht mehr darin schwimmen mögen. Und das Schlimmste: Die Meerwalnuss frisst ihre eigenen Kinder, um ihr Überleben zu sichern. 
Luise ist diese Erzählung zu einseitig. Die Meeresbiologin ist die Protagonistin in Marie Gamillschegs neuem Roman. Schon seit Jahren erforscht sie die verhasste Quallenart und ist fasziniert von den Fähigkeiten der glibberigen Meerestiere: „Wir halten die Meerwalnuss für ein primitives Tier, weil sie kein Herz und kein Hirn hat, dabei besitzt sie eine Körperintelligenz, die dem Menschen gänzlich abhandengekommen ist.“

Hautsensibel wie die Meerwalnuss

Körper interessieren Luise ohnehin. Vor allem der eigene Körper fasziniert und ekelt sie zugleich. Als Jugendliche litt sie unter einer Essstörung und noch immer ist die Nahrungsaufnahme ein schwieriges Thema für sie.
Auch ihre Haut macht ihr zu schaffen – mit mehreren Schichten Schminke versucht sie, die Unebenheiten zu verdecken. Aber auch das Make-up kann nicht verhindern, dass Luises Haut auf äußere Einflüsse reagiert, auf Stress vor allem. Fast ist es wie bei ihren Quallen: „Die Meerwalnuss nimmt innere und äußere Reize über ihre Haut wahr und reagiert direkt darauf, sie muss die Information nicht erst im Hirn übersetzen.“

Fremd gewordener Vater

In „Aufruhr der Meerestiere“ entwirft Marie Gamillscheg das Porträt dieser jungen Meeresbiologin, die sich so unwohl fühlt in ihrem Körper und in ihrem Leben. Als gefragte Wissenschaftlerin hetzt Luise von Kongress zu Kongress, leidet aber trotz ihres Erfolgs unter Konkurrenzdruck und hohen Erwartungen.
Für eine Kooperation ihres Instituts mit einem renommierten Zoo reist sie nach Graz, ihrer Heimatstadt. Dort wohnt sie in der Wohnung des Vaters, der sich nach einem Herzinfarkt bei Luises Bruder erholt. Der Vater ist also abwesend – aber dennoch ständig präsent: Luise versucht zu ergründen, wann sie sich so fremd geworden sind, warum sie nicht mehr wirklich miteinander sprechen können. Sie findet keine Antwort.

Gedankenstrom in die Tiefe

All das beschreibt Marie Gamillscheg in einer Art Gedankenstrom, in dem Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verschmelzen: Da sind die Meetings im Tierpark, der Besuch bei der Mutter, das Treffen mit einer Freundin von früher und die zähen Stunden in der leeren Wohnung des Vaters, in denen Luise in Kindheitserinnerungen schwelgt und sich quälende Fragen nach der Sinnhaftigkeit ihres heutigen Lebens stellt.
Nicht immer ist klar, was wirklich passiert und was sich nur in Luises Kopf abspielt. Den Aufenthalt in Graz erlebt sie wie in einer Art Trance – ein Eindruck, der vor allem durch Gamillschegs Sprache entsteht. Die Autorin schreibt fließend, manchmal fast lyrisch. Ihr Text zieht in den Bann, lässt aber immer wieder auch innehalten, weil ein Satz mehr Aufmerksamkeit erfordert.
Mit „Aufruhr der Meerestiere“ hat Marie Gamillscheg einen sehr kunstvollen zweiten Roman geschrieben, der in die Tiefen der Ozeane und in die Untiefen familiärer Beziehungen entführt.
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