Maeva Rubli/Anisa Alrefaei Roomieh: "bei mir, bei dir"
Aus dem Französischen von Christoph Schuler
Edition Moderne, Zürich 2021
232 Seiten, 19 Euro
Zuhause in einem fremden Land
06:25 Minuten
Eine syrische Dichterin und eine Schweizer Illustratorin erzählen in "bei mir, bei dir" die Geschichte einer Geburt, einer Flucht und einer glücklichen Begegnung. Ihre Graphic Novel wirkt lange nach.
Auf einer tiefblauen Doppelseite sieht man zwei Gesichter mit geschlossenen Augen, aneinandergeschmiegt, schwebend im Blau; und darunter zwei ineinandergelegte Hände. Es sind Anisa und Khldoun. Das Paar aus Syrien lebt nach der Flucht aus ihrem Land heute mit ihren beiden Töchtern in der Schweiz.
Das Bild des schwebenden Paares der Schweizer Illustratorin Maeva Rubli steht fast schon symbolisch für ihren zugewandten und zärtlichen Blick auf die beiden und ihre Geschichte.
Anisa Alrefaei Roomieh ist mit ihrer Familie nach ihrer Flucht im Jahr 2014 in der Schweizer Kleinstadt Delémont untergekommen, dort hat sie Maeva Rubli kennengelernt. In ihrem gemeinsamen Buch "bei mir, bei dir" erzählen die beiden von dieser Begegnung, gebündelt in einem Besuch der Illustratorin in der Wohnung von Anisa.
Die Graphic Novel beginnt mit einer langsamen Annäherung, einem Blick auf die Stadt, ins Treppenhaus, auf Briefkasten und Wohnungstür. Dieses vorsichtige Herantasten, getragen von Geduld und Respekt, durchzieht die Bilder von Maeva Rubli. Viele von ihnen kommen ohne Worte aus, sie nehmen sich Zeit für Momente der Erinnerung, der Trauer oder auch der ausgelassenen Freude.
Geburt als Sinnbild
Im Zentrum der Erzählung steht die Geburt von Anisas Tochter Marya. Während Anisas Schwangerschaft herrscht schon Bürgerkrieg in Syrien, sie will in dieser mörderischen Umgebung kein Kind zur Welt bringen: "Keiner freut sich über dich … Hilf mir, Tochter, und stirb …".
Aber ihre Tochter stirbt nicht. Sie kommt in einem syrischen Krankenhaus zur Welt. Diese Geburt ist eine der eindrucksvollsten Passagen in diesem Buch: Maeva Rubli zeigt sie wie einen Tunnel, in einem von Seite zu Seite dichter und größer werdenden Wirbel, mit einer Vulva im Mittelpunkt, die in einem immer tieferen Rot pulsiert. Eine Geschichte von Schmerz und Geburt, ohne Text und ohne konkrete Abbilder, aber mit großer Ausdrucksstärke.
Anisas zweite Tochter Eva wird in der Schweiz geboren, und der Blick der Mutter auf ihre Töchter changiert nun zwischen der Trauer um die verlorene Heimat und der Freude, die beiden in Sicherheit zu wissen: "Sie können nicht in Syrien aufwachsen. Hier werden sie mitreden können, hier werden sie Rechte haben."
Verstehen, was Flucht bedeutet
Es ist die große Stärke dieses Buches, Anisas Erfahrung zugänglich zu machen, ohne dramatische Effekte oder grelle Töne. Man ist zu Gast in Anisa Alrefaei Roomiehs Zuhause und in ihrer von Schmerz und Zuversicht gleichermaßen erfüllten Erzählung. Auch Maeva Rublis Bilder drücken beides aus, sie strahlen in starken Blau-Rot-Gelb-Tönen, zeigen Anisas von schmerzvollen Erinnerungen verschattetes Gesicht. Diese Begegnung wirkt sehr lange nach.