Judith Vanistendael: "Penelopes zwei Leben"

Vom Kriegshorror ins Wohlstandsleben

05:52 Minuten
Ärztin beim Operieren: Bild aus dem Comic "Penelopes zwei Leben"
In ihrem Comic "Penelopes zwei Leben" schildert Judith Vanistendael das Leben einer Ärztin im syrischen Bürgerkrieg und in ihrer Heimat Brüssel. © Judith Vanistendael / reprodukt
Von Susanne Billig · 06.04.2021
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In ihrem Comic erzählt die belgische Künstlerin Judith Vanistendael die Geschichte einer Ärztin im Dienst einer internationalen Hilfsorganisation. Aus dem syrischen Krieg kehrt sie in ihre so vertraute, so fremd gewordene belgische Heimat zurück.
Penelope, eine spartanische Prinzessin, war ihrem Gatten Odysseus eine treue Ehefrau. Während der über die Meere irrte, wartete sie in der Heimat geduldig auf ihn. In dem neuen Comicbuch "Penelopes zwei Leben" macht Judith Vanistendael eine moderne Namensschwester selbst zur reisenden Heldin. Diese Penelope arbeitet als Chirurgin für die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" – mitten im syrischen Bürgerkrieg, im Kriegshorror von Aleppo.

Gefangen zwischen zwei Welten

Schon im starken Auftakt dieses Buches schneidet Judith Vanistendael Heimat und Krieg hart gegeneinander. In Brüssel ein hübsches Haus – mittelständische Familie, brummig-liebevoller Vater, fürsorgliche Großmutter und pubertierende 14-jährige Tochter zwischen Liebeskummer und erster Monatsblutung.
In Aleppo ein Zeltlazarett, Männer mit ausgemergelten Gesichtern, die schwerstverletzte Bombenopfer auf Tragen herbeischleppen, und Penelope im blutverschmierten Kittel, verzweifelt um die Leben der Kriegsopfer kämpfend.

Über den Umgang mit dem Tod

Der Kopf der namenlosen jungen Frau, die gerade vor ihr liegt – sie ist in demselben Alter wie ihre Tochter – fällt zur Seite. Blut rinnt aus ihrem Mund, sie stirbt auf dem Operationstisch. Es ist Weihnachten.
Die erschöpfte Penelope reist per Flugzeug in die belgische Heimat, vom Flughafen holt sie schon lange niemand mehr ab. Müde zieht sie den Koffer hinter sich her.
Noch weiß sie nicht, wer sie die kommenden Wochen in Belgien begleiten wird: Der rote Geist der Verstorbenen wird zu Hause aus dem Koffer schweben und von nun an allgegenwärtig bleiben. Beim Frühstück mit der Familie zusammengefallen in der Zimmerecke hocken. Penelope abends im Bad um den Hals fallen, tot und stumm. Und wenn die Ärztin sich neben ihren Mann ins Bett legt, wird der Geist des toten Mädchens mit unter die Bettdecke schlüpfen.

Poetische Zeichnungen

In poetischen Zeichnungen und sanften Aquarelltönen hat die belgische Comickünstlerin diese Geschichte angelegt und verleiht den erzählten Geschehnissen damit umso mehr Wucht. Sanft und liebevoll ist auch der Umgang ihrer Figuren miteinander. Doch Unruhe lauert darunter.
Wird all das Unausgesprochene in Penelope und in ihrer Familie explodieren? Wird die Tochter zusammenbrechen und fordern, dass ihre Mutter endlich für immer in Belgien bleibt? Wird der Ehemann die Geduld verlieren und sich weigern, wie ein Alleinerziehender zu leben und seine Frau monatelang in Lebensgefahr zu wissen? Wird Penelope es nicht mehr ertragen, Haus und Garten in Brüssel gegen Kriegsschutt und zerfetztes Fleisch einzutauschen?

Ein Buch, das unter die Haut geht

Judith Vanistendael erzählt von den Nöten einer Ärztin zwischen zwei Welten und legt gleichzeitig unser aller Elend frei, die wir unser behütetes Leben weiterführen, während wir doch wissen, was alles geschieht.
Es braucht den Schutz des Friedens, weiß diese Geschichte, damit Menschen sich kleine Sorgen machen und familiäre Langeweile erleben können. Andernorts schreit das Elend zum Himmel. Nur wenige setzen sich, wie diese Penelope, dem Gegensatz mit voller Wucht aus – ein Buch, das unter die Haut geht.

Judith Vanistendael: "Penelopes zwei Leben"
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Reprodukt, Berlin 2021
176 Seiten, 20 Euro

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