Lyrischer Kommentar von Nora Bossong

"Mehr Demokratie wagen"

01:52 Minuten
Zwei Paar Badeschuhe stehen auf dem Sand.
Am Badestrand denkt unsere Autorin über die Deutschen nach. © picture alliance / Soeren Stache
15.08.2019
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Am Plötzensee oder auch nur in der Nähe davon geht die Lyrikerin Nora Bossong der deutschen Seele auf den Grund. Zelte werden aufgebaut, Boulettensoße tropft aufs Handtuch. Demokratie wird gewagt und vorsichtig gefragt: Wer ist das Volk?
An einer S-Bahn-Brücke nahe Plötzensee
aufs Grau der Stufen hingesprüht:
Wählt nicht …, und nicht …, und auch nicht die ….
Die Wahl zu haben
unterhalb von Himmelsfarben,
die heute wieder Trauer tragen,
zählt nicht und allenfalls so viel wie tote Raben.
Und bitteschön, so'n Rabe also, tot dazu,
ist der die Antwort,
was man ist und wo man bleibt,
hier drüben gestern oder ganz woanders,
was wer ist und wer wir sind?
Wir sind
das Volk?
Wir sind
das deutsche Wesen?
Wir sind
noch immer zum Genesen?
Wir sind
das super Supremat?
dann lies halt mal die Anleitung
ich hab das nicht gekauft,
jetzt halt doch fest hier…
mir wär der See auch so genug
so schwer, mein Gott, is das doch nich
Wir sind
Artikel achtzehn
wir sind
der Himmel über Eisenhüttenstadt
wir sind
die Ausfahrt Kohlenfeld
wir sind
der Sand am Plötzensee
wir sind
die Flecken auf dem Strandhandtuch
Un alles voller Flecken jetzt… Halt doch die Dose runner, Mensch!
Welche was?
Na die vonne Bouletten… Mein Gott!
Lass Gott da raus
ich sach ja nur
Wir sind
an einer Brücke nahe Plötzensee,
nur eben hier,
nicht grad besonders,
unter uns und in der Welt
und flüchtig wie der ganze Rest.
Die Schriftstellerin Nora Bossong 
Die Schriftstellerin Nora Bossong© picture alliance / Horst Galuschka

Nora Bossong (*1982) lebt als Schriftstellerin und Lyrikerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Gedichtband "Kreuzzug mit Hund" (Suhrkamp-Verlag 2018).

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