Lyrischer Kommentar von Nora Bossong

Piena di Grazia

02:36 Minuten
Eine Statue der Jungfrau Maria wird während einer Prozession zum Jahrestag einer Muttergottes-Erscheinung getragen.
In Rom prallen Dolce Vita und Flüchtlingselend in besonderer Weise aufeinander. In Nora Bossongs Gedicht darüber spielt auch das Gebet "Ave Maria" eine Rolle. © dpa/ epa/ Paulo Novais
13.08.2019
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Touristenglück und Flüchtlingselend: In Rom liegen Himmel und Hölle nah beieinander, wie die Lyrikerin Nora Bossong deutlich macht. Auch Herrscher vergangener Tage werfen ihre Schatten in die Szenerie - und ein Ave Maria klingt an.
Einmalig, dieser Caffè, dolce vita wieder mal!
Das ist Rom! Das ist das Leben, weißt du,
so… ach, herrlich!, ach, und weiter so!
Das kalte Licht im Halogencafé
mit Sperrholzwand am Bahnhof Termini,
halb zehn am Abend, unter der Synthetikseide
eines Schlafsacks regt sich was.
Italien, Ankunfts-, Transithalle.
Santa Maria madre di Dio prega per noi
peccatori adesso e nell'ora della nostra…
Una Mattina bin ich aufgewacht,
und hab erkannt, wie man den Himmel
frisch bespannt, die Sterne runterholt,
wie zweiundzwanzig, dreiundvierzig in Salò,
ach nein, ach was, um ein, zwei Schatten nur
verrutscht, man sagt, Italien sei nun Binnenland,
e ha trovato l'invasor.
Die aber gibt es noch: die Deutschen, Sandaletten an,
trinken ihren Caffè vor den tausend Brunnen,
so schön gerückt in schwebend ewigen
Gemäuerrestchen, rotverbrannt, umgarnt
von Kellnern, schlechter Stundenlohn,
o partigiano, portarmi via.
In den Himmel fliegen Spielzeugtrümpfe,
ein Plastikbecher konserviert die Schatten
letzter Trinkgelage im Gebüsch und auf
dem Grabbeltisch mahnt noch immer Hand erhoben:
Mussolini. Möwen taumeln überm Säulengang,
wo einst schon Cäsar stürzte, doch wer war Cäsar,
was sind Möwen, was machen sie so fern vom Meer?
Und Nero, Liebes, ist nun wirklich eine Weile her.
Die Autorin Nora Bossong am 13.03.2017 im Rahmen des Literaturfestivals Lit.Cologne in Köln (Nordrhein-Westfalen)
Die Autorin Nora Bossong© dpa / Rolf Vennenbernd

Nora Bossong (*1982) lebt als Schriftstellerin und Lyrikerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Gedichtband "Kreuzzug mit Hund" (Suhrkamp-Verlag 2018)

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