Asli Erdogan über Repression in der Türkei

"Zu späte Gerechtigkeit ist überhaupt keine Gerechtigkeit"

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Die türkische Autorin Asli Erdogan bei einer Veranstaltung 2017 in Leipzig.
Die türkische Autorin Asli Erdogan bei einer Veranstaltung 2017 in Leipzig. © Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa
Asli Erdogan im Gespräch mit Andrea Gerk · 20.02.2020
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Asli Erdogan saß 130 Tage in U-Haft wegen angeblicher Beteiligung am Putschversuch. Als Beweis sollte ausgerechnet ein literarischer Essay von ihr gelten. Nun wurde sie freigesprochen, doch der Beleg für einen Paradigmenwechsel sei dies nicht, so die Autorin.
Andrea Gerk: Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan ist eine Symbolfigur für die Repressionen im Land. 130 Tage lang war sie nach dem Putschversuch gegen Präsident Erdogan im Juni 2016 in Untersuchungshaft, bevor sie freigelassen wurde und ins Exil nach Deutschland ging.
Ende der vergangenen Woche hat ein Gericht in Istanbul Asli Erdogan von allen Vorwürfen freigesprochen, während vorgestern der türkische Intellektuelle Osman Kavala zunächst freigesprochen worden war, dann aber erneut Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde.
Wir haben mit Asli Erdogan gesprochen und ich habe sie zuerst gefragt, ob es nicht erstaunlich ist, dass ein türkisches Gericht mit ihrem Freispruch ja offen zugibt, geirrt zu haben.
Asli Erdogan: Man kann sagen, zu späte Gerechtigkeit ist überhaupt keine Gerechtigkeit. Schließlich wurde mir über dreieinhalb Jahre lang der Prozess gemacht. Ich bin verhaftet worden unter den allerschlimmsten Vorwürfen, denen der Zerstörung der Einheit der Republik, des Staates, habe ein erschwertes lebenslänglich als Urteil bekommen. Einerseits ist das wirklich ein Wunder, dass ich da wieder rausgekommen bin aus diesen Türen, die sich ja für immer hätten schließen sollen demzufolge.
Aber andererseits ist es ja von Anfang an auch ein Verfahren gewesen, das komplett gegen das Gesetz stand, das absolut nicht mit dem Gesetz vereinbar war. Also ich kann nicht wirklich froh sein darüber, dass es so gekommen ist, da ja von Anfang an keine Basis für diese Anschuldigungen bestanden hat.
Gerk: Frau Erdogan, Sie sind ja aufgrund von Texten verhaftet worden, die man als Propaganda eingestuft hat. Einer soll aus Ihrer Essaysammlung "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" kommen, heißt "Faschismustagebuch: Heute". Was ist denn das überhaupt für ein Text?

Ein literarischer Text als Propaganda?

Erdogan: Ich bin zunächst verhaftet worden unter dem Vorwand, dass ich ja die literarische Ratgeberin gewesen wäre der prokurdischen Zeitung damals. Also die Essays, die ich geschrieben hatte, sollten diese Vorwürfe eigentlich nur noch unterstützen. Das waren auch verschiedene Essays.
Anfangs erfolgte die Beschuldigung aufgrund von Essays, die ich über die Grausamkeiten geschrieben hatte, die das türkische Militär in kurdischen Städten verübte hatte. Später hat man dann diese Artikel geändert, wahrscheinlich wollten sie nicht, dass diese Grausamkeiten dann aufgrund dieser Anklage noch mehr in die Öffentlichkeit gelangen, und man hat dann eher literarische Arbeiten von mir ausgewählt.
Also auch dieser Text, von dem Sie sprechen, "Faschismustagebuch: Heute", ist eigentlich gar kein politischer Text. Es ist ein innerer Monolog, ein literarischer Text. Der bezieht sich auf den Kollaps, auf den Verfall eines Individuums, das unter einem totalitären Regime lebt, dort aber gar nicht unbedingt selbst Opfer ist, sondern einfach Zeuge ist und dieses Leben unter diesem Regime mitbekommt und daran zerbricht.
Es gibt gar keinen konkreten Zeitraum, keinen konkreten Ort, an dem sich das abspielt. Das ist total abstrakt. Das ist Literatur. Von daher war es wirklich ein Schock, dass ausgerechnet dieser Essay nun als Propaganda herhalten sollte. Es ist eigentlich ein humanistischer Text. Natürlich, er richtet sich gegen die Verbrechen und der Tötung von Zivilisten, aber es ist kein konkreter Hintergrund.

Literarische Verarbeitung der Gefängniszeit

Gerk: Können Sie denn das, was Sie erlebt haben, dass Sie im Gefängnis waren und diese ständige Bedrohung auch erlebt haben, überhaupt literarisch verarbeiten? Schreiben Sie auch darüber?
Erdogan: Bis jetzt habe ich erst einen Text geschrieben seitdem, "Die Masken der Osiris", das war auch das Vorwort der deutschen Fassung von "Das Haus aus Stein". Das habe ich Ende 2019 geschrieben, also ein neues Vorwort zu diesem Buch, kurz vor der Veröffentlichung in Deutschland. Das ist ein vielleicht 30-seitiger Text, und in dem geht es auch um mein Gefängnistrauma.
Aber jetzt schreibe ich gerade an einem anderen Text, der sich um den Selbstmord einer Mitgefangenen dreht. Das war eine russische Gefangene, die sich in der ersten Nacht nach ihrer Verhaftung im Gefängnis selbst getötet hat. Ich denke schon, dass es noch lange dauern wird, bis ich all meine Erfahrungen dieser Art nach außen tragen kann, wenn ich überhaupt dazu in der Lage sein werde.
Gerk: Frau Erdogan, können Ihre Texte denn überhaupt in der Türkei erscheinen, oder ist das für Verleger zu gefährlich?
Erdogan: Also vor zwei Jahren wurden meine Bücher in der Türkei aus den öffentlichen Bibliotheken genommen. Zu meinem Verleger von vorher habe ich eine ziemlich heftige Beziehung. Er hat mich tatsächlich auch vor Gericht gebracht. Er ist Mitglied der AKP. Ich weiß nicht, ob ich so schnell einen anderen Verleger finden werde.
Es gibt aber durchaus Leute, die meine Bücher, meine Texte noch lesen wollen in der Türkei. Das gibt es schon, aber einen neuen Mainstreamverleger zu finden, wird sehr schwierig werden. Also kleinere Verleger zu finden, das wird auf jeden Fall möglich sein, aber diese Frage ist immer noch offen.
Gerk: Als letzte Woche dieser Freispruch für Sie kam, da dachte man ja, vielleicht zeichnet sich da ein Paradigmenwechsel in der türkischen Politik ab, aber dann wurde der Kulturmäzen Osman Kavala, der eigentlich aus der Untersuchungshaft freigelassen werden sollte, erneut in Haft genommen. Die Situation scheint also völlig unberechenbar geworden zu sein, oder wie nehmen Sie das wahr?

"Ich sehe keinen Paradigmenwechsel in der Politik in der Türkei"

Erdogan: Als erstes muss ich erwähnen, dass Osman Kavala ein alter sehr guter Freund von mir ist. Ich habe auch eine Zeit lang für ihn und mit ihm gearbeitet. Wir haben zum Beispiel das erste Kulturzentrum in Diyarbakir aufgebaut, und dieses Zentrum steht immer noch. Ich bin wirklich sehr stolz, mit ihm gearbeitet zu haben.
Von Anfang an war es so, dass sein Fall so gelagert war wie meiner. Es war komplett unlogisch. Es fehlten den Anklagepunkten jegliche Basis. Wir sind beide wirklich Opfer in einer Hexenjagd, wo ein Beispiel statuiert werden soll, ein Exempel für die Gesellschaft, um zu zeigen: So benehmt euch mal lieber nicht!
Ich sehe keinen Paradigmenwechsel in der Politik in der Türkei. Auch wenn ich jetzt freigesprochen worden bin, so kann das doch immer wieder ins Gegenteil verkehrt werden. Das Justizsystem ist unberechenbar. Wenn sich die Befehle ändern, ändert sich auch Justiz. Solange dieses System nicht ein bisschen unabhängiger wird, dann wird es auch keine wirklichen Veränderungen geben.
Vielleicht geht auch mein Fall demnächst an eine höhere Instanz. Das weiß man nicht. Wie unsere beiden Fälle gibt es hunderttausend andere, und wenn dann einer freigesprochen wird oder temporär befreit wird, denn ich weiß ja nicht, ob das für immer ist, dann hat das nicht wirklich etwas zu bedeuten. Also ich weiß auch selbst nicht, ob sie mit mir wirklich fertig sind.
Gerk: Sie haben ja angekündigt, nicht in die Türkei zurückzugehen. Was bedeutet das für Sie, hier im Exil zu bleiben? Ihnen fehlt ja sicher Ihr intellektuelles Umfeld, Ihre Freunde. Wie kommen Sie damit zurecht, Frau Erdogan?

"Die Distanz zu meiner Sprache ist das Schlimmste am Exil"

Erdogan: Ich bin ja nicht die erste Autorin, die im Exil leben muss und wahrscheinlich auch nicht die letzte, aber was bei mir wirklich schwer wiegt, ist das Exil von meiner Sprache. Das ist eigentlich die einzige Verbindung, die ich zur Türkei spüre. Ich habe eigentlich schon immer gefühlt, dass ich da gar nicht wirklich hingehöre. Andererseits geht es mir mit wahrscheinlich jedem Ort auf der Welt so, dass ich mich da nicht zugehörig fühle.
Aber die türkische Sprache ist etwas, zu der ich mich definitiv zugehörig fühle. Ich beherrsche die türkische Sprache wirklich gut, und das ist meine Sprache. Ich atme in dieser Sprache, und ich bin nicht in der Lage, in einer anderen Sprache zu atmen auf diese Art und Weise, was das Schreiben betrifft. Ich merke, wie ich täglich mehr von meinem Türkisch verliere. Das ist das Schlimmste am Exil, diese Distanz zu meiner Sprache.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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