Bücher über Identität

Über Herkunft schreiben

Kindergartenkinder spielen auf einem Spielplatz der Kindertagesstätte in Berlin
Ost- und westdeutsche Vergangenheit prägt bis heute Identitäten. Hier: der Spielplatz einer Kindertagsstätte in Ost-Berlin. © picture alliance / Caro / Sorge
15.04.2024
Unsere Gegenwart gilt als Zeit des Individuums. Die Befreiung aus den Fängen und Zwängen des Kollektivs gilt als Errungenschaft. Trotzdem beherrschen Debatten um Identität und Herkunft die Öffentlichkeit und spiegeln sich auch in der Literatur wider.
Als die in der DDR geborene und aufgewachsene Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt im Jahr 2010 in Bayreuth zur Professorin berufen werden sollte, kam es zu einer für sie irritierenden Situation: Sie musste eine Erklärung zur Verfassungstreue abgeben und wurde gefragt, ob sie in der DDR Mitglied der FDJ gewesen sei. Das war sie, „wie über 90 Prozent aller DDR-Jugendlichen ab der 8. Klasse“, sagt Arndt. Diese Ehrlichkeit hätte fast ihre Berufung verhindert.
„Deswegen musste sich der Kanzler der Uni Bayreuth erst beim Bayerischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst informieren, wie damit umzugehen sei. Ihm wurde mitgeteilt, „dass er mich leider nur berufen könne, wenn ich der FDJ ‚abschwören‘ würde“, berichtet Arndt. „Das war schon paradox. Indem ich jetzt der FDJ abschwor, behauptete ich ja indirekt auch, dass ich früher und bis jetzt an die FDJ glaubte.“

Diskriminierungserfahrungen als Teil ostdeutscher Identität

Es sind Erlebnisse wie dieses, durch die sich Arndt erst zur Ostdeutschen gemacht fühlt. Diskriminierungserfahrungen seien fester Bestandteil ostdeutscher Identität. Westdeutsche Überlegenheitserzählungen und ostdeutsche Diskriminierungsgefühle sind deshalb ein wichtiges Thema der deutschen Gegenwartsliteratur.
Sachbücher wie das von Susan Arndt („Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD“, 2024), von Dirk Oschmann („Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, 2023) oder Naika Foroutan und Jana Hensel („Die Gesellschaft der Anderen“, 2020) kritisieren eine ungleiche Diskurshoheit zwischen Ost- und Westdeutschland. In der Belletristik entwirft eine Generation von in den Wendejahren Geborenen einen neuen Blick auf das Erbe der DDR. Die Romane von Anne Rabe („Die Möglichkeit von Glück“, 2023), Charlotte Gneuß („Gittersee“, 2023) oder Matthias Jügler („Die Verlassenen“, 2021, und „Maifliegenzeit“, 2024) haben mit ihrem Blick auf die DDR Debatten ausgelöst.

Aus dem Osten über den Westen schreiben

Dass nicht nur geografische oder politische Herkunft prägend sein können für Identität und Teilhabe, sondern auch Klasse und soziale Herkunft, haben unter anderem Marlene Hobrack („Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“, 2022) und Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“, 2020) beschrieben. Das Verschwinden der Arbeiterklasse erzählt Martin Becker nun am Beispiel seiner Familie in „Die Arbeiter“ (2024). Wie verschwundene Malocher-Jobs die Identität einer ganzen Region prägen können, zeigt Ingo Schulze in seinem Buch „Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ (2024). Der in Dresden geborene und in Berlin lebende Schriftsteller dreht damit zudem den westdeutschen Blick auf Ostdeutschland um.
In unsere Buchempfehlungen für den April 2024 stellen wir fünf Bücher über Identität und Zugehörigkeit vor, über die Ursprünge und Folgen von Identitätsdenken, sowie über dessen Vorteile und Nebenwirkungen.

Susan Arndt: „Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD. Eine Intervention“

„Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD“ – Wer sich beim Lesen des Buchtitels unwillkürlich fragt, ob da ein „trotzdem“ fehlt oder ein „deswegen“, ist schon mittendrin im Thema. Die in der DDR aufgewachsene und an der Universität Bayreuth lehrende Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt schreibt an gegen Vereinfachungen und simple Zuschreibungen.
Anhand ihrer eigene Biografie beschreibt Arndt, welche Geschichten eigener Überlegenheit das Verhältnis zwischen Ost und West oft prägen – und schon lange geprägt haben. Sie erzählt vom brutalen Umbruch der Wendezeit, ohne den oft erlittenen Verlust als Ausrede für rechtsradikales Wahlverhalten gelten zu lassen. Und sie analysiert, wie sich die AfD den Identitätskonflikt zwischen Ost und West zunutze macht, ohne irgendeine konstruktive Lösung anzubieten: „Wer AfD wählt, wählt Rassismus und Sexismus.“ Die AfD als rein ostdeutsches Phänomen zu betrachten, sei falsch, davon ist Arndt überzeugt. Wer aber der AfD das Wasser abgraben wolle, müsse endlich auch den Graben zwischen Ost und West zuschütten.

Susan Arndt: „Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD. Eine Intervention“
C.H. Beck 2024
175 Seiten, 16 Euro


Martin Becker: „Die Arbeiter“

Kleinstadt, Reihenhaus, Gebrauchtwagen – und manchmal ein Urlaub, immer an der Nordsee. „Wir hatten es doch gut, irgendwie.“ Martin Becker erzählt in „Die Arbeiter“ seine Familiengeschichte. In den 1980er- und 90er-Jahren wächst er im Sauerland auf. Sein Vater ist Bergmann, arbeitet später in der Schmiede, die Mutter in der Wäscherei. Beide malochen ihr Leben lang und geben das protestantische Arbeitsethos an ihre Kinder weiter. Was hat diese Prägung bei Bildungsaufsteiger Becker bis heute hinterlassen? Vieles reflektiert der Autor und Journalist erst heute, wo er selbst Vater ist: die Scham, die ständigen Geldsorgen und den harten Anspruch an sich selbst. Manchmal entdeckt er auch die Wut seines Vaters im eigenen Verhalten.
In seinen einfühlsamen Beobachtungen und nostalgiefreien Erinnerungen porträtiert Martin Becker dabei auch eine untergehende Klasse. Während 1970 in Westdeutschland noch 47,3 Prozent der Erwerbstätigen zur Arbeiterklasse gehörten, waren es 2021 nur 12,3 Prozent. Warmherzig und doch kritisch hält Becker fest, was mit der westdeutschen malochenden Klasse verschwindet.

Martin Becker: „Die Arbeiter“
Luchterhand 2024
304 Seiten, 22 Euro


Matthias Jügler: „Maifliegenzeit“

Nur der Titel dieses Romans klingt idyllisch. Matthias Jügler erzählt in „Maifliegenzeit“ davon, wie brutal das DDR-System in Familien eingegriffen hat, und davon, wie dieses düstere Erbe bis heute fortwirkt, wenn es nicht aufgearbeitet wird. Im Zentrum des ebenso behutsam wie spannend erzählten Romans steht ein Fall von Kindsraub.
Während seine Frau, die Mutter des gemeinsamen Sohnes, schon immer ahnte, dass etwas nicht stimmt, wird Matthias Jüglers Erzähler erst vier Jahrzehnte später mit dem Ungeheuerlichen konfrontiert: Kurz nach der Geburt war den Eltern im Krankenhaus eröffnet worden, dass ihr Neugeborenes gestorben ist. Tatsächlich war das Kind Adoptiveltern übergeben worden. Die Gründe dafür bleiben in Jüglers Roman offen.
Was den 1984 in Halle/Saale geborenen Schriftsteller interessiert, ist vielmehr: Was macht es mit einem Menschen, wenn er erfährt, dass die eigene Lebensgeschichte noch einmal vollends anders erzählt werden muss? Ein aufwühlender Roman, der lange nachhallt.

Matthias Jügler: „Maifliegenzeit“
Penguin 2024
160 Seiten, 22 Euro


Yascha Mounk: „Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“

Wie hängen Macht und Identität zusammen? Es sind vielerlei Kategorien, anhand derer Menschen unterdrückt wurden und werden: Geschlecht, Religion, Herkunft, Ethnie, um nur ein paar zu nennen. Um dagegen aufzubegehren, haben Minderheiten und Marginalisierte ein neues Selbstbewusstsein erkämpft. Sie beziehen genau jene Kategorien, die ihrer Ausgrenzung dienten, in ihre Identität mit ein.
Dieses hilfreiche Selbstbewusstsein sei jedoch dabei, in eine kontraproduktive Obsession zu kippen, warnt Yascha Mounk. Er sieht eine neue Ideologie heraufziehen, die Menschen in Herkünfte und Gruppen aufspaltet, statt danach zu suchen, was alle eint und verbindet. Der in den USA lehrende deutsche Politikwissenschaftler untersucht die intellektuellen Wurzeln – von Foucault über Said und Spivak bis zu Bell – und ist überzeugt: Nicht alle dieser Vordenker könnten mit den heutigen Konsequenzen ihrer Forschung einverstanden sein.
Anhand plakativer Beispiele – insbesondere aus dem Alltag an US-Schulen und -Universitäten – skizziert Mounk die Folgen eines Identitätdenkens, das im Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit neue Ungerechtigkeit bis hin zu neuer Segregation fördere.

Yascha Mounk: „Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“
Übersetzung: Helmut Dierlamm und Sabine Reinhardus
Klett-Cotta 2024
512 Seiten, 28 Euro


Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“

Ingo Schulze, der in seinen Romanen und Erzählbänden die mentale Topografie Ostdeutschlands vermisst, erkundet in „Zu Gast im Westen“ eine Region, die – ähnlich dem Osten – von Strukturwandel gezeichnet ist: das Ruhrgebiet. Schulze besucht Grundschulen, in denen kaum ein Kind Deutsch spricht, und lernt beeindruckende musikpädagogische Konzepte kennen, entdeckt eine der wohl letzten linken Buchhandlungen Deutschlands. Beim langersehnten Stadionbesuch ist er längst nicht so entflammt wie erwartet. Und natürlich denkt er über den Wandel von Männlichkeitsbildern und den vergangenen Mythos einer Arbeitergegend nach. Oder er gräbt sich tief in die Vergangenheit, wenn er die historischen Verstrickungen von Alfred Krupp in Erinnerung ruft.
Ohne, dass er es explizit formuliert, gewinnt man den Eindruck: Schulzes Erkundungen sind grundiert von der Frage, ob und wo sich in gesellschaftlichem Wandel und Krisen auch positive Geschichten finden lassen. In seinen Reportagen, Gesprächen und Überlegungen schält er eine Haltung heraus, die trotz aller Strukturprobleme ansteckend ist: offen, herzlich und zutiefst menschlich.

Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“
Wallstein 2024
344 Seiten, 24 Euro

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