Lina Meruane: „Heimkehr ins Unbekannte“

Forschen am eigenen Spiegelbild

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Buchcover zu Lina Meruanes "Heimkehr ins Unbekannte - Unterwegs nach Palästina".
"Heimkehr ins Unbekannte" von Lina Meruane ist in kurze Abschnitte unter Schlagworten gegliedert. © Berenberg Verlag
Von Katharina Döbler · 15.04.2020
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Ihr Großvater wanderte von Palästina nach Chile aus. Für das Buch "Heimkehr ins Unbekannte" reiste die Schriftstellerin Lina Meruane ins Land ihrer Ahnen. Aus ihren Begegnungen, Gesprächen und Betrachtungen sind literarische Miniaturen entstanden.
Das neue Buch von Lina Meruane ist eigentlich - zwei Bücher. Das Erste erschien schon 2014 auf Spanisch mit dem unübersetzbar mehrdeutigen Titel "Volverse Palestina": Was wörtlich heißt: "Palästinenserin werden" oder "Palästina werden". Das Wort "volver" bedeutet umdrehen, zurückkehren, mit dem reflexiven Pronomen aber bedeutet es werden. Sich umdrehen und werden. Man wird, was man war.
Rückverwandlung ist das Wort, das die wunderbare Übersetzerin Susanne Lange dafür findet. Dass allein der Titel eines Buches bei der Leserin solche Grübeleien auslöst, ist bezeichnend für das Schreiben Lina Meruanes: Während sie die Welt betrachtet, ihr zuhört, sie beschreibt, erforscht sie zugleich die impliziten Bedeutungen, die in den Worten des Alltags liegen.
Zum Beispiel in der Frage, die auf so vieles abzielen kann: Where are you from?

Suche auf palästinensischen Spuren

Lina Meruane ist Chilenin und lebt seit 20 Jahren mit ihrem spanischen Ehemann als Literaturdozentin in New York. Ihr Großvater väterlicherseits wanderte als Jugendlicher aus Palästina nach Chile aus, wo schon mehrere Verwandte lebten. Lange war dieser Teil Familiengeschichte für die Autorin nicht mehr als ein fernes Hintergrundrauschen.
Das Buch der "Rückverwandlung" handelt von der anfangs noch gelegentlichen Suche nach palästinensischen Spuren, den Gräbern, den Dokumenten und den Geschichten, und zunehmend auch von Begegnungen mit Menschen, die die Neugier auf das Land der Herkunft schüren – und schließlich von der Reise nach Palästina, die über Israel führt.
Dort ist ihr Gastgeber ein lateinamerikanischer jüdischer Schriftstellerkollege, der mit einer Palästinenserin verheiratet und zum Islam konvertiert ist. Er begleitet sie zu ihren entfernten Tanten, die mit Abscheu auf ihn reagieren.

Zweite Reise mit geschärftem Blick

Das zweite Buch ist das Echo das ersten. Fünf Jahre später reiste Lina Meruane noch einmal nach Palästina – mit einem härteren und geschärften Blick, mit einem klareren Gefühl der Zugehörigkeit.
Die Funktion der zahllosen israelischen Checkpoints im Palästinensergebiet beschreibt sie als willkürliche Beschlagnahmung von Zeit: "Die Kontrolle der Zeit ist eine weitreichende Waffe, geladen mit Erniedrigungen."
Nichts ist mehr planbar, keine Beerdigung, keine Hochzeit, keine Krebsbehandlung, keine Verabredung – eine Erfahrung, die sie nun am eigenen Leibe macht.

Themen spiegeln sich in körperlichen Phänomenen

Es ist Lina Meruanes literarische Spezialität, politische, historische und emotionale Themen in körperlichen Phänomenen zu spiegeln. Das hat sie schon in vielen ihrer Romane und Essays getan, und das tut sie auch hier, und zwar wortwörtlich: im Betrachten des eignen Gesichts.
Wie arabisch sehe ich aus? Wie sehe ich für die andern aus? Für die israelischen Kontrollposten zum Beispiel? Und: Wie sehe ich mich selbst?
Im Kleinbus mit einer höchst international gemischten Gruppe von Friedensaktivisten geht sie vor den Soldaten – zusammen mit den anderen – ohne weitere Kontrolle auf einmal als Deutsche durch.

Kleinteilige Erforschung

Lina Meruanes Erforschung der Vergangenheit und Gegenwart des Palästinenserin-Werdens findet kleinteilig statt: in kurzen Abschnitten unter Schlagworten. Verschiedene Begebenheiten, Gesprächsfragmente und essayistische Betrachtungen formen sich zu einem Mosaik, jedes Steinchen eine eigene literarische Miniatur. Das große Bild, das sich daraus ergibt, ist ein Spiegelbild, das die Fragen der Betrachterin zurückwirft.
Eigentlich – wäre die Pandemie nicht dazwischengekommen – sollte Lina Meruane im Sommersemester 2020 als Samuel Fischer-Gastprofessorin in Berlin ein Seminar abhalten: "The face: an approach from many angles".
Die Erforschung des Spiegelbilds ist für sie jedenfalls noch nicht zu Ende – und vielleicht, hoffentlich, wird man irgendwann mehr davon lesen können.

Lina Meruane: Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina
Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange
Berenberg Verlag, Berlin 2020
208 Seiten, 24 Euro

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