Lesebuch „Auf dem Lande alles dicht?“

Leerstand mit Leben füllen

05:58 Minuten
Buchcover: "Auf dem Lande alles dicht?" von Sowada und Hotopp-Riecke
Das Buch bietet einen guten Überblick über Konzepte und Ideen der kulturellen Bildungsarbeit auf dem Land. © Deutschlandradio / Hirnkost Verlag
Von Nana Brink · 20.02.2021
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In Städten fehlen oft Räume für die Jugendkultur – auf dem Lande fehlt es manchmal an Jugend, oft aber nur an Koordination und Ideen. Ein Projekt aus Sachsen-Anhalt zeigt, wie man das Landleben für junge Menschen attraktiv machen kann.
Der Begriff "Dehnungsfuge" kommt aus dem Bau-Jargon: Jener schmale Zwischenraum soll beim Bauen die Beschaffenheit unterschiedlicher Materialien ausgleichen, es ihnen sozusagen erlauben, sich zu "dehnen" oder auch zu schrumpfen. Die Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung (LKJ) in Sachsen-Anhalt hat sich diesen Namen für ein Projekt ausgewählt, das auf die eher symbolischen Risse zwischen Alt und Jung, Stadt und Land, Einheimischen und Migranten und Migrantinnen hinweist.


Fünf Jahre hat das LKJ leer stehende Gebäude mit neuen Ideen zu neuem Leben erweckt, nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch in drei weiteren Bundesländern. Das Buch "Auf dem Land alles dicht? – Ein interdisziplinäres Lesebuch über die kreative Füllung von Leerstand" blickt dabei nicht nur auf die einzelnen Projekte zurück und was aus ihnen geworden ist. Die Herausgeber Torsten Sowade und Mieste Hotopp-Riecke fordern auch explizit mehr staatliches Engagement in der Jugendarbeit.
Ausgehend von der These, dass der Demografiewandel das Leben auf dem Land in den letzten drei Jahrzehnten massiv verändert hat – und noch weiter verändern wird – versucht das Projekt, die Eigeninitiativen von Jugendlichen zu fördern. "Die Jugendlichen sind vor Ort, genauso die Freiräume, Leerstände und Ideen. Was oft fehlt, ist Know-how und Vernetzung. Wir haben z.B. Freie Theater mit Jugendlichen und kommunaler Wirtschaft und Verwaltung ins Gespräch gebracht und beraten", erklärt Projektleiter Torsten Sowade vom LKJ Sachsen-Anhalt.

Die heutige Jugend ist die bravste seit 100 Jahren

Gleich zu Beginn des Buches setzt das Interview mit Klaus Farin ein deutliches Ausrufezeichen. Die heutige Jugend sei die bravste seit 100 Jahren, meint der Gründer des Archivs der Jugendkulturen in Berlin. Was nicht heißt, dass sie angepasst wäre oder keine Ideen hätte. Sie seien nur nicht so revolutionär wie die der 68er. Aber auch damals seien nur "3 bis 5 Prozent der Jugendlichen auf die Straße gegangen. Heute sind es viel mehr". Es gäbe heute nicht weniger Jugendkulturen als vor 20 oder 30 Jahren. "Sie heben sich nur nicht mehr so stark optisch vom Normalbürger und von anderen Jugendlichen ab." Besonders auf dem Land spielten Jugendzentren als Orte des Ideenaustausches eine zentrale Rolle.
"Happy Locals" nennt sich das Projekt von Tresor-Gründer und Teilzeit-Uckermärker Dimitri Hegemann. Die Uckermark ist eines der am dünnsten besiedelten Gegenden Deutschlands. Das Wichtigste sei die Vermittlung, erklärt Hegemann: "Die Räume gibt es überall. Das Absurde ist doch, dass alle Zeichen auf Grün stehen. Die Bürgermeister:innen wollen eine zufriedene Jugend, die Jugend ist hungrig, die Ideen sind da und es gibt großen Leerstand. Das müsste man unserer Meinung nach einfach zusammenpuzzeln".
Geplant ist jetzt eine "Subkultur-Akademie", in der Jugendliche vom Land dafür geschult werden, ihre eigenen Projekte zu realisieren. Einen Praktikumsplatz hat ihnen Hegemann schon angeboten: "Die Student:innen würden mir und den anderen beim Tresor Tag für Tag über die Schulter schauen." Wie sich das in Corona-Zeiten realisieren lässt, bleibt offen.

Zukunft des örtlichen Jugendklubs hing am seidenen Faden

Wie herausfordernd die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt sein kann, schildert das Kapitel über das Dorftheater in Bittkau, einer 600 Seelen-Gemeinde an der Elbe, 50 Kilometer von Magdeburg entfernt. Die Zukunft des örtlichen Jugendklubs hing am seidenen Faden, und als die Frage auftauchte, wie man den leer gewordenen Kindergarten dafür nutzen könnte, entwickelte die Dorfgemeinschaft eine generationsübergreifende Revue über die letzten 100 Jahre Bittkaus.
Entscheidend für den Erfolg war nicht nur die Finanzierung durch das Projekt "Dehnungsfuge", sondern das "Coaching des gesamten Prozesses". Dazu gehörte ein erfahrenes Team von Künstler:innen wie Drehbuchschreiber, Regisseurin oder Kulissenbauer.
Fast alle Projekte zeigen ähnliche Erfahrungen auf: Gesucht werden sowohl Multiplikatoren vor Ort wie externe Berater. Um "Leerräume" zu füllen, braucht es verlässliche Planung. Möglich geworden ist das Zustandekommen vieler Projekt auch aufgrund einer soliden Finanzierung. Das Bundesprogramm "Demokratie leben!" unterstützte mit jährlich sechs Millionen Euro ausgewählte Initiativen, die dann durch weitere Projektmittel aus den Ländern kofinanziert wurden.
Wer einen Überblick über Konzepte und Ideen der kulturellen Bildungsarbeit auf dem Land bekommen möchte, hat hier ein gutes Kompendium in der Hand, mit weiterreichender Fachliteratur. Die eingestreuten Interviews mit den Macher:innen motivieren; nur dem einen oder anderen Text hätte ein engagierteres Lektorat gutgetan.

Torsten Sowada, Mieste Hotopp-Riecke (Hg.): "Auf dem Land alles dicht? Ein interdisziplinäres Lesebuch über die kreative Füllung von Leerstand"
Hirnkost Verlag, 2020
360 Seiten, 28,00 Euro

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