Lebensentwürfe ohne Kind

"Manchmal packt mich das Bedauern"

Verlassene Schaukel
Kinderlosigkeit ist häufig ein Ergebnis komplexer Lebensentscheidungen © dpa / chromorange / Stephan Mentzner
Von Tina Hammesfahr · 10.04.2021
Ein knappes Viertel der Frauen, die in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik geboren wurden, ist kinderlos. Selbstbestimmung einerseits, Aufopferung für die Familie andererseits – diese Doppelbotschaft führte zu vielen Konflikten. Eine Bilanz.
Frauen, geboren in den 1960er Jahren, gehörten mit zu den ersten in der Geschichte, die selbstbestimmt entscheiden konnten, ob sie Kinder haben möchten und wie viele. Angela aus Bergisch Gladbach kam gemeinsam mit ihrem Mann Günter zu dem Entschluss, ein Leben ohne Kinder zu wagen. Selbstverständlich war das nicht für die katholische Erzieherin, die seit kurzem in Rente ist:
Angela, geboren 1958, pensionierte Erzieherin
"Anfänglich war für mich oder eigentlich auch für uns klar, dass wir Kinder bekommen würden. Und dann kamen immer mehr Argumente von dir, dass du gesagt hast: Was spricht eigentlich dafür, ein Kind zu bekommen? Wenn man das realistisch sieht, spricht da wenig für. Ich habe einerseits meinen Beruf gesehen, den ich geliebt habe. Andererseits - mein Herz hat auch schon gesagt, ich hätte gern auch ein Kind. Das war so um die 30, wo es dann sich entscheiden musste. Bis dahin haben wir immer gesagt: Hat ja noch Zeit."
Angela, Jahrgang 1958, entscheidet sich wie ein knappes Viertel aller Frauen ihrer Generation in der Bundesrepublik, für ein Leben ohne eigene Kinder. Unter Akademikerinnen wählten sogar ein knappes Drittel diesen Lebensentwurf. Was brachte die bundesdeutschen Frauen der 1960er Jahrgänge und ihre Männer dazu, sich immer häufiger gegen Kinder zu entscheiden? Was steckt hinter diesem Phänomen, das in der Öffentlichkeit als "Gebärstreik", als ‚"Zeugungsstreik" denunziert wurde?

Daten und Fakten zu Kinderlosigkeit in Deutschland
Bundeszentrale für politische Bildung

Die Anzahl kinderloser Frauen in der Bundesrepublik erschien nicht nur im Vergleich mit der DDR oder den europäischen Nachbarn ungewöhnlich hoch – sie war es auch. Kinderlosigkeit in dieser Größenordnung und sogar noch höher hatte es zuletzt bei den Frauenjahrgängen gegeben, die um 1900 in Deutschland geboren wurden. Die Gründe damals: Männermangel infolge des Ersten Weltkriegs, die Weltwirtschaftskrise und steigende Erwerbschancen für Frauen in der aufkommenden Dienstleistungsgesellschaft.

Individuelle Entscheidung in der Kinderfrage

Angela: "Für uns kam es nie infrage, für mich, Beruf und Kind zu vereinbaren. Es war immer klar, wenn du ein Kind hast, bleibst du auch zuhause und bist für dein Kind da. Und das war für mich die krasse Entscheidung zu sagen, ich möchte nicht so auf meinen Beruf verzichten."
Die Auseinandersetzung mit Kinderwunsch und Elternschaft unterliegt im Laufe des Lebens starken Schwankungen, so die Psychologin Christine Carl, Mit-Autorin einer umfänglichen Studie zu Kinderlosigkeit. Zwischen den Polen inniger Kinderwunsch und seinem Gegenteil – spannt sich ein Kontinuum, auf dem Frauen und Männer sich immer wieder neu entscheiden. Je nachdem, wann und weshalb das Thema auftaucht, sei es, dass eine Freundin ein Kind bekommt, dass die Eltern nach Enkeln fragen oder die Partnerin sich ein Kind wünscht, je nach Ausbildung, Beruf, Partnerschaft oder auch Wohnsituation, kommt es zu einem komplexen Entscheidungsprozess. Frauen und Männer müssen abwägen, ob sie Eltern werden wollen oder nicht – und die Folgen ihrer Entscheidung selbst tragen.
Mit Anfang 20 stehen unseren Protagonisten Bildungschancen und Lebensmodelle offen, von denen ihre Eltern nicht zu träumen gewagt hätten. Zunächst müssen sie sich aber von den Prägungen des Elternhauses und starren Geschlechterrollen befreien. Ein unerwartet langwieriger und mühsamer Prozess. Mit Anfang 30 liegt bei vielen unserer Gesprächspartnerinnen eine Entscheidung in der Kinderfrage an. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik sind in den 1980er- und 1990er-Jahren aber noch unzureichend, wenn es darum geht Familie und Beruf zu vereinbaren. In den Partnerschaften unserer Protagonisten sorgt das für Konflikte.
Günter, geboren 1958, pensionierter Werkstattleiter
Angela: "Die Tendenz ging eigentlich immer mehr dahin, dass wir bei unserem Leben bleiben wollten. Ich glaube nicht, dass wir uns gegen das Kind entschieden haben, sondern wir haben uns eher dafür entschieden, unser Leben so weiter fortzuführen, wie wir es führen. Das war, glaube ich, auch eine gute Entscheidung für uns. Ich glaube, wir sind in so vielen Dingen so unterschiedlicher Meinung, wo wir heute noch dran arbeiten, dass uns das eigentlich immer beschäftigt hat."
Und ihr Mann Günter: "Das würde ich auch so sagen. Dass wir uns nicht gegen ein Kind, sondern für unser Leben entschieden haben. Ohne Kinder ist so ein Leben doch deutlich einfacher."
Die Versorgerehe, auch Hausfrauenehe genannt, repräsentierte das bundesdeutsche Familienleitbild in den 1950er und 1960er-Jahren: Der Vater ging arbeiten, die Mutter versorgte zuhause die Kinder. Müttererwerbstätigkeit galt als Gefährdung dieser Arbeits- und Rollenteilung. Die Soziologin Michaela Kreyenfeld weist darauf hin, dass die Bundesrepublik sich damit sowohl von der Geburtenpolitik in der NS-Zeit als auch von dem als pro-natalistisch verurteilten DDR-Kurs absetzen wollte. Maßnahmen wie das Ehegattensplitting, das sich besonders lohnt, wenn die Ehepartner ungleiche Einkommen haben und die Renten- und Krankenversicherung auch für nicht berufstätige Ehepartner förderten dieses Leitbild. Auch die Gewerkschaften kämpften für einen Familienlohn, mit dem der männliche Arbeitnehmer Frau und Kinder ernähren konnte.
Annette, geboren 1965, Lehrerin
Annette ist 55 Jahre alt und im Ruhrgebiet aufgewachsen. Sie lebt mit ihrem langjährigen Partner in Berlin, in einem ehemals besetzten Haus. Annette arbeitet an einer Grundschule, war viele Jahre als Beraterin in der Familienhilfe tätig und hat eine Zusatzausbildung zur systemischen Familientherapeutin absolviert. Annette und ihr langjähriger Partner haben keine Kinder. Ein Umstand, den Annette gelegentlich bedauert.
"Ich weiß nicht, ob ich einen Kinderwunsch hatte. Es war einfach klar, dass ich wenn aber auch drei Kinder wollte so wie meine Eltern. Aber im Nachhinein habe ich mich dann auch gefragt: Hatte ich eigentlich wirklich einen richtigen Kinderwunsch oder war das einfach so ein – wie nennt man das denn – so ein Muss, ein nicht Hinterfragtes, so eine Selbstverständlichkeit vielleicht? Ist eh klar, du kriegst mal Kinder. Kriegen wir alle Kinder und will auch das fortsetzen, was du kennengelernt hast. Aber, wollte ich dann vielleicht doch nicht hundert Prozent."

Aufschieben der ersten Geburt erhöht Kinderlosigkeit

Als junge Erwachsene steht das Thema Familiengründung für die Lehrertochter Annette nicht im Vordergrund. Nach Abitur und zwei Semestern Pädagogik ist es zunächst wichtiger, den Verheißungen von Coolness und Freiheit nach Berlin zu folgen. Nach dem Mauerfall ist Annette in der Hausbesetzerszene aktiv.
Das Aufschieben der ersten Geburt vergrößert die Wahrscheinlichkeit, kinderlos zu bleiben, davon sind Demografen und Soziologen überzeugt. Es kann zur Folge haben, dass sich Frauen und Männer an einen Lebensstil ohne Kind gewöhnen. Viele Frauen unterschätzen auch, wie stark ihre Fruchtbarkeit im Laufe des dritten Lebensjahrzehnts sinkt, sagen Gynäkologen.
Aus der Küche mit 16 Leuten sind Ende der 1990er-Jahre kleinere Wohneinheiten geworden. Freundinnen und Bekannte von Annette bekommen das erste Kind – auch Annette und ihr Partner möchten jetzt Kinder. Doch es klappt nicht.
Annette: "Und nicht, weil ich so einen Stress hatte, sondern das war schon eine Essstörung. Deswegen war es auch schwierig, überhaupt schwanger zu werden und ich glaube auch, dass dann diese erzeugte Schwangerschaft - also auf jeden Fall hat die nicht gehalten."
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Kinderlosigkeit endet nicht automatisch mit der Menopause, so die Psychologin Christine Carl. Wie habe ich mich damals entschieden? Was waren die Gründe dafür? Diese Fragen können, abhängig von der Lebenssituation, auch später noch auftauchen.
Annette: "Es war auch der größte Stich, den ich hatte, als meine Schwester mir erzählte, dass sie schwanger ist. Das kenne ich auch von anderen Frauen. Wenn die Schwester dann wird und man selber wollte oder es klappte nicht oder auch, wenn du ambivalent bist, das ist schon noch mal nah dran und irgendwie schmerzhaft."
Andrea, geboren 1959, Regisseurin
Andrea, 62 Jahre, ist Regisseurin im Radio. Zwischen 30 und 40 lebte sie in einer lesbischen Liebesbeziehung, ohne sich strikt als Lesbe zu identifizieren. Sie umging die Gefahr, schwanger zu werden – und hatte Zeit, sich auf ihre berufliche Entwicklung als Frau in einer Männerdomäne zu konzentrieren.
"Die Vorstellung, alleinerziehende Mutter zu sein, war für mich eigentlich das Schrecklichste überhaupt. Und ich hätte meinen Regieberuf auf gar keinen Fall als alleinerziehende Mutter machen können. Das ist nicht vereinbar, so wie die Strukturen hier sind. Und die Vorstellung, alleine, ohne Geld, ohne einen guten Beruf, mit einem Kind, oder vielleicht sogar mit mehreren, da zu sitzen, war für mich der absolute Albtraum."
Die erste Maßnahme zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Bundesrepublik wurde 1979 getroffen, die Einführung des Mutterschaftsurlaubs, begrenzt auf berufstätige Frauen. Die zweite Maßnahme folgte 1986 unter Familienministerin Rita Süssmuth: Maximal zehn Monate Erziehungsgeld und bis zu 600 Mark konnten beantragt werden, auch Väter und nicht berufstätige Frauen, etwa Studentinnen, waren berechtigt. Doch wie sollte die Kinderbetreuung ab dem elften Monat geregelt werden? Das blieb Privatsache.
Mit 19 Jahren wurde Andrea ungewollt schwanger, von einer Affäre. "Meine Eltern haben im ersten Moment auch unglaublich wütend reagiert, wie mir das passieren konnte. Und ich wurde behandelt, als hätte ich denen gestanden, ich sei jetzt heroinsüchtig."

Bildungs- und Berufschancen auch für Frauen

Ende der 1970er-Jahre galt man nicht mehr als ein gefallenes Mädchen, weil man vorehelichen Sex hatte und ungewollt schwanger war. Der Ausbruch von Andreas Mutter zeigt auch die Ambivalenz der Mütter jener Zeit: Ihre Tochter soll etwas aus ihrem Leben machen, eine Ausbildung absolvieren, eine Karriere haben. Doch was sie der Tochter vorlebt, ist das Gegenteil – ein Dasein als Mutter und Hausfrau. Eine Doppelbotschaft an die Tochter, die daraus ihre eigenen Konsequenzen zieht.
"Es war auch die Zeit so: Mach selber was aus deinem Leben und lass dich nicht von Sachen abhalten, die einfach aus einer Dummheit entstehen. Man konnte zu der Zeit, zu dem Zeitpunkt sehr viel machen. Ich meine, ich konnte meine Schulabschlüsse alle nachmachen, obwohl ich nicht aus einer Akademikerfamilie kam. Ich habe keinen Krieg erlebt, natürlich die Folgen des Krieges in meinen Eltern, in deren Psychostrukturen, das natürlich schon. Aber mir stand eigentlich oder meiner Generation stand sehr viel offen. Und wenn man dann das nicht ergriffen hat, war man dumm."
Im Zuge der Auflösung traditioneller Bindungen entstehen Spielräume für jede und jeden Einzelnen. Die neue Gestaltbarkeit des eigenen Lebens ist aber nicht frei von Zwängen, argumentiert das Soziologenpaar Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck. Der Schlüssel zur Lebenssicherung liegt im Arbeitsmarkt – dafür braucht man Qualifikationen. Ob die Bildungspolitik Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien unterstützt oder Eliten-Förderung betreibt, übt daher Einfluss auf Einzelbiografien aus. An den Arbeitsmarkt gekoppelt sind auch die Sozialleistungen, von der Krankenversicherung bis zur Altersvorsorge. Die Anforderungen des Arbeitsmarktes werden zur wichtigen Vorgabe der persönlichen Zukunftsplanung. Mit Folgen für das Bewusstsein: Die Suche nach dem Selbst und das Ringen um Selbstverwirklichung sind laut Beck-Gernsheim nicht auf einen kollektiven Narzissmus zurückführen, sondern Ausdruck jener gesellschaftlich-historischen Entwicklung, die den Lebenslauf zur persönlichen Aufgabe und Anforderung machen.
Christine, geboren 1963, Pfarrerin
Christine ist Pfarrerin in einer Stuttgarter Gemeinde, wie einst ihr Vater. Die große schlanke Frau mit den kurzen Haaren war früher Klinikseelsorgerin und ist heute noch - neben ihrer Tätigkeit in der Pfarrei - Mitarbeiterin in der Notfallseelsorge. Arbeit bestimmt ihr Leben, für die 58-Jährige ist das selbstverständlich. Ihre Lebensgefährtin – die beiden sind schon seit Jahrzehnten zusammen, ist ebenfalls Gemeindepfarrerin. Sie haben keine Kinder.
"Ich hatte ja nicht wirklich eine Vision von mir als junge Frau, aber dass ich mal Mutter werde, war mir eigentlich schon immer irgendwie klar."

Vielfältige Lebensmodelle

Nach dem Abschluss ihres Theologiestudiums beginnt Christine ein Vikariat. Obwohl sie eine Affäre mit einem Kollegen hat, verliebt sie sich heftig – in eine Frau. Es ist ein Traum wie bei Sigmund Freud, der die Wahrheit an die Oberfläche bringt.
"Ich war entsetzt, als ich entdeckt habe, dass ich lesbisch bin und ich hab das mit meinem kirchlichen Leben auch überhaupt nichts zusammen gekriegt. Ich habe es auch mit meiner Familie überhaupt nichts zusammen gekriegt. Ja, das hat mich in große Konflikte gebracht. Das war was, was eigentlich nicht sein durfte und es war so unabweisbar nun da."
Im beruflichen Umfeld musste Christine ihre sexuelle Orientierung zunächst noch verstecken, bei ihren Eltern löst sie damit eine große, nicht wiedergutzumachende Enttäuschung aus.
"Als ich meinen Eltern gesagt habe, dass ich die Frau meines Lebens gefunden habe. Sie hatten es sich schon gedacht. Aber es war trotzdem – ich hab ihnen das zugefügt. Und du bleibst trotzdem unsere Tochter – das war ein Satz, der hat eigentlich gar nicht gutgetan, der hat viel mehr wehgetan, weil in meinem So-Sein bin ich nicht auf Annahme gestoßen. Es ist eine Verwundung des Lebens, die ich bis heute in der Tiefe mit mir herumtrage."

Mutterbild geprägt durch eigene Wertvorstellungen

Es sind aber nicht nur die äußeren Umstände, die sich Christines Kinderwunsch in den Weg stellen, nicht nur die Intoleranz der Eltern, der Kirche oder der Gesellschaft, sondern auch ihre eigenen Wertvorstellungen.
"Es war lang für mich dann völlig eine Unmöglichkeit, dass ich als Lesbe zu Kindern komme und ich bin bis heute ein bisschen unsicher, ob ich es für mich selbst wollte, das hat sich jetzt von meinem Alter her einfach erledigt. Aber, auch alle Möglichkeiten, wie man als Frau alleine zu einem Kind kommen kann, haben für mich immer auch ein Fragezeichen. Da bin ich vielleicht auch konservativ in meinem Denken oder romantisch, wie auch immer."
In der Fachliteratur werden verschiedene Gruppen Kinderloser unterschieden. Frühentscheider entscheiden sich früh für ein Leben ohne Kinder. Phasen mit Kinderwunsch können auftreten, etwa wenn der Partner einen Kinderwunsch äußert. Spätentscheider entscheiden sich spät, aber noch vor Ende ihrer fertilen, also fruchtbaren Phase.
Robert, geboren 1962, Grafiker
Robert ist Grafiker. Der 58jährige, Nachzügler einer vierköpfigen Geschwisterschar, wusste früh, dass er keine Kinder in die Welt setzen möchte. Trotzdem ist er ein Beziehungsmensch. Single war er immer nur für kurze Zeit.
"Ich hatte nie einen ausgesprochenen Kinderwunsch. Bis heute. Es war lange Zeit war es auch so, dass ich ausgesprochen keine Kinder haben wollte. Dass es für mich eine sehr beängstigende Vorstellung gewesen wäre, jetzt ein Kind zu haben und die Verantwortung dafür zu haben. Das hat sich über Jahre oder Jahrzehnte dann halt auch geändert. Irgendwann war es dann auch nicht mehr, dass ich da – also, wenn es so gewesen wäre, wäre es so gewesen."

Angst vor der Verantwortung als Eltern

Roberts Vater wurde nach dem Abitur eingezogen und als deutscher Soldat in den Krieg geschickt. Als er mit Anfang 30 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückkehrte, war seine Jugend vorbei.
"Das war, glaube ich, sehr bitter für ihn. Er ist dann nicht ein Mensch, der dann wütend wird, sondern ich glaube, dass die erste oder größte Reaktion bei ihm war Angst. Ich habe meinen Vater sehr stark, oft sehr stark unter Druck und unter Angst erlebt. Ich finde, mein Vater war ein feiner Mann, ein feiner Mann, der sehr viel Angst hatte im Leben. Und ich glaube, lange Zeit mit dieser Angst nicht gut klargekommen ist, da nicht wirklich eine Antwort darauf hatte, wie er damit umgehen soll. Aber er hat sich irgendwie im Nachhinein, merke ich auch, wenn ich jetzt darüber rede, ich habe unheimlich Hochachtung vor ihm, wie er sich da durchgebissen hat, auch durch dieses Kriegsthema."
Während der Vater viel Ruhe braucht und sich regelmäßig aus dem Familienalltag mit vier Kindern zurückzieht, ist Roberts Mutter stets ansprechbar.
"Ich glaube, sie war wirklich sehr gerne nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern im Prinzip die Managerin von dem ganzen Haushalt. Und das war keine einfache Aufgabe."
Die Lockerung der Geschlechterrollen erfordert einen ständigen Dialog zwischen den Liebenspartnern, die sogenannte "Beziehungsarbeit". Eigene Bedürfnisse müssen mit denen des Partners abgeglichen werden, um zu gemeinsamen Vorstellungen von Liebe, Beziehung und Partnerschaft zu gelangen.
Als für Robert und seine Freundin die Kinderfrage im Raum steht, überlässt er die endgültige Entscheidung dem Schicksal. "Wir haben es volle Kanne drauf ankommen lassen. Wir haben nicht verhütet, ganz einfach. Ich glaube, da hätte unter normalen Bedingungen eine Schwangerschaft bei rauskommen müssen. Aus welchen Gründen auch immer, ist sie halt nicht bei rausgekommen."

Die Lockerung der Geschlechterrollen

Die Trennung war schmerzhaft. Und sie veränderte Robert und seine Einstellung zu Beziehungen. "Das hat auch im Nachhinein vielleicht auch nochmal was ausgemacht mit diesem Verhältnis von mir jetzt zu dieser Einstellung zu Kindern, weil ich gesehen habe: Dieses Blockieren von einem Wunsch von meinem Partner, dass das irgendwie auch ein sehr verletzendes Verhalten für jemand anders ist. Das geht so nicht. Wenn ich in Beziehung gehen möchte zu einem Menschen, dann kann ich irgendwie nicht sagen: Das ist aber nicht mein Wunsch."
Claudia, geboren 1972, Sozialpädagogin
Claudia, Jahrgang 1972, ist aufgewachsen in einem großen Neubaugebiet im heutigen Sachsen-Anhalt. Ihre Eltern waren beide berufstätig, die Mutter als Laborantin, der Vater als Ingenieur beim (VEB) Chemische Werke Buna. Das lässige Outfit ihrer Teenager-Tochter gefiel der Mutter nicht, die beiden gerieten oft aneinander. Nicht weiter ungewöhnlich, wäre nicht der frühe Tod der Mutter gewesen zu einer Zeit, als sich ihre Beziehung zu bessern begann. Claudia ist viele Jahre als Rucksacktouristin um die Welt gereist. Sie lebt in Berlin und unterrichtet an einer Grundschule. Sie hat keine Kinder, ungewollt, wie sie betont.
"Also, ich wollte eigentlich immer vier Kinder haben, soweit ich mich erinnern kann. Weil, ich habe immer gedacht, ein Kind, das ist Quatsch, ein Einzelkind und zwei Kinder auch nie. Mein Bruder ist fünf Jahre älter, und wir hatten nie so die tolle Beziehung halt. Und dann dachte ich, drei Kinder ist auch blöd, dann ist einer in der Mitte. Vier ist eine gute Größe."

Der Kinderwunsch wird aufgeschoben

In ihren Zwanzigern unternimmt Claudia, wovon sie als DDR-Kind träumte: Sie geht auf Reisen. Das Kinderkriegen verschiebt sie auf später.
In der DDR wurden die frühe Elternschaft und die volle Integration der Mütter in den Arbeitsmarkt gefördert. Während Akademikerinnen in der Bundesrepublik besonders häufig kinderlos blieben, hatte der Bildungsabschluss in der DDR kaum Auswirkungen darauf, ob Frauen Kinder bekamen oder nicht – der Anteil kinderloser ostdeutscher Frauen der 1960er-Jahrgänge ist mit rund zehn Prozent sehr niedrig. Wie viele Kinder eine Frau hatte, war in Ost und West ebenfalls unterschiedlich – typisch für die DDR waren zwei Kinder. In der Bundesrepublik variierte es stärker – von Ein-Kind-Familien bis zu solchen mit drei und mehr Kindern.
Claudias Mutter leidet in dieser Zeit zunehmend an Depressionen. Nichts scheint ihr zu helfen, weder Psychotherapie noch Medikamente. Claudia, unterwegs auf dem Landweg nach Pakistan, erreicht dies kaum.
"Ich habe zwar sehr selten zu Hause angerufen, ich wollte weg sein, komplett raus und woanders. Das war aber dann durch Zufall immer gerade dann auch an dem Tag, wo meine Mutter im Krankenhaus war. Ich habe dann immer gesagt: 'Wo ist Mutti?' Und dann mein Vater: 'Die schläft schon, hat sich hingelegt.' Und ich fand es immer ein bisschen komisch, dachte ich, irgendwas ist doch."
Claudia lag richtig mit ihrer Befürchtung – die Situation war ernst. Ein bisschen Zeit blieb ihr und der Mutter nach ihrer Rückkehr aus Asien noch, aber nicht mehr viel. Mit Anfang 30 will Claudia schwanger werden. Ihren Freund kann sie endlich von dieser Idee überzeugen.
"Er ist kein Wessi, er ist West-Berliner. Es ist halt auch lustig, ich habe ihn auf Reisen kennengelernt. Er ist auch sehr freiheitsliebend und war noch mehr unterwegs als ich. Das ist auch sehr sein Leben so. Das war auch ein Grund, warum er keine Kinder haben wollte. Um Gottes willen, meine Freiheit!"

Trauer wegen unerfülltem Kinderwunsch

Statt schwanger zu werden, wird Claudia von Hitzewallungen geplagt und ihre Tage kommen nur noch jeden zweiten Monat. "Ich bin dann mit Mitte dreißig in die Wechseljahre gekommen. Es war nämlich so, dass ich mit 30 dann angefangen habe, zu unterrichten und das natürlich für mich ganz schön aufregend war und recht stressig. Und dass ich immer so schlecht geschlafen habe und auch totale Hitzewallungen dann schon nachts hatte oder meine Regel ausblieb. Ich habe aber damals immer gedacht, es liegt am Stress."
Claudia ist nicht die Einzige in ihrem Freundeskreis, die sich von ihrem Kinderwunsch verabschieden muss. Manchmal fällt es ihr schwer: "In der Zeit, wo es mir wegen dem unerfüllten Kinderwunsch nun so schlecht ging, dachte ich: Ach Mensch, wenn ich jetzt mal mit meiner Mutter darüber reden könnte."
Claudia ist 16 Jahre alt, als die politische Wende stattfindet. Etwa 15 Prozent der ostdeutschen Frauen der 1970er Jahrgänge sind kinderlos - ein Anstieg im Vergleich zu vorher, aber immer noch weniger als in den westdeutschen Bundesländern.

Auch Nicht-Akademikerinnen sind kinderlos

Nicht nur Akademikerinnen sind von Kinderlosigkeit betroffen, sondern auch Frauen und Männer ohne Universitätsabschluss, die nicht-akademische Berufe ausüben. In den letzten Jahren steigt die Kinderlosigkeit bei Nicht-Akademikerinnen sogar weiter an. Soziologen sehen darin eine Trendwende: Berufstätigkeit ist von einer Barriere zur Voraussetzung für die Familiengründung geworden. Häufig wechselnde Partnerschaften oder Beziehungslosigkeit halten Experten für einen weiteren Faktor für Kinderlosigkeit - in allen sozialen Gruppen.
Lucia, geboren 1955, gelernte Schreinerin
Lucia ist geschieden und lebt im Kölner Umland. Sie ist etwas älter als unsere anderen Protagonistinnen. Ihr Jahrgang 1955 ist schon betroffen von dem Trend zur Kinderlosigkeit. Lucia ist gelernte Schreinerin, hat aber nur kurz in ihrem Ausbildungsberuf gearbeitet, bevor sie beim Zirkus landete. Aufgewachsen in schwierigen familiären Verhältnissen, sieht sie sich aber als ein Stehaufmännchen. Lucia und ihr damaliger Mann, Musiker im Zirkusorchester, wünschten sich Kinder, nach einer Eileiterschwangerschaft ging es nicht mehr auf natürlichem Weg.
"Nachdem ich mich entschlossen hatte, zu heiraten, wollte ich auch Kinder haben. Dann auch diesen Klassiker, mindestens zwei oder drei. Großes Auto, alle sitzen drin, Mama, Papa und die Kinder. Diese Bilderbuchfamilie. Das war immer so ein Bild. Da habe ich sehr, sehr lange, auch aufgrund dieser IVF-Behandlungen, irgendwie ganz lange drangehangen, ohne zu merken, dass die Randbedingungen einfach nicht stimmten."
Lucias Mann zahlte die IFV-Behandlungen, nur die ersten drei wurden von der Krankenkasse übernommen. "Da er als Musiker sehr viel unterwegs war, hat er mich auch sehr viel allein gelassen. Ich habe im Laufe der Zeit auch andere Paare im Wartezimmer kennengelernt, die immer zu zweit dort saßen. Und der Partner mit dabei war. Und ich habe sehr oft Situationen gehabt, wo ich Sperma im Glas mit hatte und er nicht mit dabei war."
Die Rollen in der Ehe sind von Anfang an klar verteilt – hier der Orchesterleiter, dort Lucia, das Mädchen für alles. "Im Zirkus habe ich ein Jahr im Büro gearbeitet und bin dann an die Kasse gewechselt und habe nachher in der letzten Zeit die Kassenleitung übernommen, da die Kassenchefin krank wurde und die habe ich vertreten. Dann kam aber auch schon die Zeit, in der wir angefangen haben, diese IVF-Behandlungen zu machen. Und das ließ sich halt nicht koordinieren."

Ungünstige Rahmenbedingungen für Familie

Viel Ruhe ist dann wichtig, damit sich das Ei festsetzen kann. Doch diese Ruhe hatte Lucia nicht – statt als Kassenchefin arbeitete sie nun als Bedienung im Vorzelt, eigentlich mit der Absicht, sich für die Behandlungen Auszeiten nehmen zu können.
"Ich musste in der Zeit, in der es darum ging, ruhig liegen, viel trinken, Ruhe haben, da hat er mich in die Restauration arbeiten geschickt. Dann ging in der Pause der Vorhang auf und 1500 Leute kamen aus dem Zelt und wollten was trinken. Das hat mich so gestresst, dass ich sehr oft diesen Abbruch dann dort im Vorzelt hatte."
Mit den Folgen der Fehlgeburten musste Lucia alleine klarkommen. Ihr Mann erlaubte es nicht, dass irgendjemand anderes davon erfuhr. Auch seine Eltern, in deren Haus sie während der Saisonpause ihr Winterquartier aufschlugen, waren nicht eingeweiht.
"Es gab eine Situation zu Weihnachten, das war erste oder zweite Weihnachtsfeiertag. Wir waren bei seinen Eltern zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Vorher lief im Fernsehen die biblische Geschichte von Abraham und Sarah. Sie wurde auch verstoßen und er hat sich dann eine andere Frau genommen. Dann gehen wir zum Kaffeetrinken runter. Sie wohnten einen Stock tiefer. Dann sage ich: Habt ihr das auch gesehen? Die Geschichte von Abraham und Sarah. Ja. Und daraufhin sagt sie: "Ja, hat er doch recht getan, dass er sie verstoßen hat. Frauen, die keine Kinder kriegen, sind vertrocknete Pflaumen."
Für Menschen in traditionellen Milieus sind Ehe und Familie elementarer Kern ihrer Identität – und wesentlich für die soziale Akzeptanz im Nahumfeld. Elternschaft wird häufig als etwas Ur-Natürliches begriffen, Hilfesuchende werden stigmatisiert. Diese Hürden gilt es zu berücksichtigen, wenn Broschüren zu Beratungsangeboten erstellt werden. Das empfiehlt eine Studie zu Kinderlosigkeit im Auftrag des Bundesfamilienministeriums.
Mit diesem Mann wollte Lucia kein Kind mehr bekommen, auch wenn sie gern eMutter geworden wäre. Sie ist 40 Jahre alt, als sie sich von ihrem Mann trennt. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie über ihre Ehe und die vielen vergeblichen Versuche, ein Kind zu bekommen, sprechen kann. Kaffeetafeln sind ihr heute noch ein Graus: "Ein gedeckter Tisch und Blümchen in der Mitte. Zuckerdöschen. So was. (Lacht) Ganz furchtbar."

Mitscherlich: Die widersprüchliche Rolle der Mutter

Der Unwille, die widersprüchliche Rolle zu übernehmen, die eine Mutter in unserer Gesellschaft hat, nimmt bei den Frauen der jüngeren Generation zu, schreibt die Psychoanalytikerin Margarethe Mitscherlich 1977 in der Zeitschrift EMMA. Und weiter: Sie wollen oft keine Kinder mehr, weil es ihnen widerstrebt, sich als Frau einerseits verachtet zu fühlen, andererseits innerhalb der Familiengemeinschaft die Mutter aller ihrer Mitglieder, das heißt auch im gewissen Sinne die einzig Erwachsene sein zu sollen.
Beate, geboren 1966, Lehrerin und Künstlerin
Beate ist im Großraum Stuttgart aufgewachsen, auf einem der kleineren Bauernhöfe, die in den 1970er-Jahren zum Opfer der Strukturkrise werden und nicht mehr genug abwerfen. Fünf Geschwister, Hedwig, die alte Magd, der alkoholkranke Vater, die ungeliebte, kaltherzige Großmutter – sie alle leben dort. Es ist Beates Mutter, tiefgläubig, immer am Rande der Erschöpfung, die den Laden zusammenhält - um den Preis ihrer Selbstaufgabe.
"Meine Mutter hat sich dann gleichzeitig auch sehr identifiziert mit all den Aufgaben und Pflichten. Also, sie ist wahnsinnig arbeitsam gewesen. Wenn wir dann zum Beispiel zur Obsternte waren, dann weiß ich noch, wie sie mit Mitte 50, vielleicht war sie sogar noch älter, und ich mit meinen jungen Jahren, wir haben dann eben gemeinsam die Apfelbäume geschüttelt. Damals hatten wir noch keine Maschine, und meine Mutter hat wirklich eine unbändige Kraft gehabt. Also ich habe fünf Bäume geschafft. Das ist eine richtig harte Arbeit, man schwitzt aus allen Poren. Man hat am nächsten Tag wahnsinnigen Muskelkater, weil man wirklich diese schweren Äste zum Schütteln bringen muss, und meine Mutter – ich glaube, sie hat zwölf Bäume geschüttelt."
Beate arbeitet mehrere Jahre als Sonderschulpädagogin, bevor sie aufgrund eines Burnouts den Berufs wechselt und sich einen Traum erfüllt: Sie studiert Malerei. Die Heirat mit ihrem Freund Alex scheint ihr die perfekte Lösung zu sein: Alex verspricht Beate, sie finanziell zu unterstützen, damit sie in Ruhe malen kann.
"Ich habe dann nach der Heirat gemerkt, es ist nicht einfach irgendwie. So eine Eheschließung ist nicht nur: "Ja, wir machen das mal". Sondern das macht was mit einem. Tatsächlich fühlte ich mich dann anders mit Alex. Man hat sich stärker noch zueinander bekannt. Man hat sich stärker entschieden, dass man zusammenbleibt, dass man sich stärker unterstützt, und das war mir alles nicht so klar."

Die Unterstützung des Partners zählt

Beate und ihr Mann Alex sind ein Wochenendpaar. Als das Ehepaar Anfang der 2000er-Jahre nach Berlin zieht, ist Beate Stipendiatin eines Künstlerinnen-Programms in der Hauptstadt. Alex braucht für seinen neuen Job nicht mehr ständig in den Flieger zu steigen. Der Zeitpunkt für die Familiengründung scheint gekommen.
"Da war ich Ende dreißig und eigentlich schon recht spät, aber ich war bei allem recht spät dran. Ich habe auch ganz spät erst eine Beziehung gehabt. Das war sehr schwer mit meinem Ehemann. Er wollte - aber er hat sich überhaupt nicht so realistisch auf Planungen eingelassen. Dass er mit mir überlegt hätte: Wie kriegen wir das denn hin? Dass ich Künstlerin sein kann und er weiterhin dann seinem Beruf nachgeht? Da ist er richtig zornig geworden und hat gemeint: Du willst überhaupt kein Kind! Du denkst immer nur an dich! Da hab ich einfach nur gemerkt: Er versteht gar nicht, dass das tatsächlich auch ein Thema ist. Dass man als Mutter eben, wenn man sich nicht aufgeben will, tatsächlich auch an sich denken muss."
Das Familienleitbild der Versorgerehe prägte die Bundesrepublik weit über die 1960er-Jahre hinaus: Nach der Einführung des Mutterschaftsurlaubs 1979 und des Erziehungsurlaubs 1986 wurde 1996 der Anspruch auf einen Kitaplatz für Kinder zwischen drei und sechs Jahren gesetzlich verankert – und die Elternzeit, 2001 eingeführt, das deckt das erste Lebensjahr ab. Eine Betreuungslücke blieb: Zwischen dem vollendeten ersten und dem dritten Lebensjahr des Kindes. 2003 fand die familienpolitische Wende statt. Die niedrigen Geburtenraten gefährdeten die sozialen Sicherungssysteme, wie die Rente - die Politik war alarmiert. Konrad Adenauers Überzeugung: "Kinder kriegen die Leute immer"– hatte sich als Fehleinschätzung erwiesen. Der Ausbau von Betreuungseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren begann – die Geburtenraten stiegen. Bis zum Rechtsanspruch auf einen U3-Platz dauerte es weitere zehn Jahre.

Krankheit als Faktor für Kinderlosigkeit

Beate könnte ein Jahr Elternzeit nehmen. Das ging bereits, als sie mit Alex über die Familiengründung nachdenkt. Sie hat nicht nur ihre stets überlastete Mutter auf dem Bauernhof vor Augen, der nicht einmal Zeit für ein bisschen Schönheitspflege blieb. Da war noch etwas – Beates Krankheit. Erst mit Anfang 40 kommt Beate nach einer Odyssee von Arztbesuchen selbst darauf, dass es sich um Nahrungsmittelallergien handelt – und kann endlich Abhilfe schaffen.
"Ich habe mal ein Tagebuch geführt, wo ich immer reingeschrieben habe, wann ich Schmerzen hatte, und rechnerisch hatte ich 50 Prozent meiner Lebenszeit mit Schmerzen verbracht. Und das hieß, ab 16 Uhr war ich oft im Bett, weil dann nur noch das erträglich war. Das kannst du mit Kindern nicht machen, und das war mir klar."
Noch während ihrer Ehe schwängerte Alex eine andere Frau – für Beate der Auslöser, sich zu trennen. Dann verließ er seine neue Freundin vor der Geburt ihres gemeinsamen Kindes. Ein Schicksal, das auch ihr widerfahren wäre, glaubt Beate.

Hagestolz und alte Jungfer

Ihr schmucken Jungfern allzumal,
Lasst euch’s zur Warnung sagen:
Seyd nicht zu kitzlich bei der Wahl,
Wenn Freier nach Euch fragen;
Denn wählt ihr hin und wählt Ihr her,
So kommt zuletzt kein Bräut’gam mehr.

Denkt, eine alte Jungfer seyn,
Welche bitt’res Los auf Erden! –
Die Mädchen sollen einmal frei’n,
Soll’n Frau’n und Mütter werden;
Ein Mädchen, die da sitzen bleibt,
Hat sich so gut wie selbst entleibt.

Aus dem Neuruppiner Bilderbogen: Das hübsche Jettchen und ihre Freier, 19. Jahrhundert

Die Geburt von Kindern war in der Vergangenheit grundsätzlich mit der Heirat verknüpft. Heiraten und eine Familie gründen durften aber nur die, die es sich leisten konnten. Mägde und Knechte etwa waren davon ausgenommen – und nicht nur sie.

Nicht jeder durfte heiraten

Die Historikerin Karin Hausen: "Alle geborenen Frauen konnten nie heiraten. Das Verheiraten von Töchtern war teuer. Und außerdem war es gut, wenn man - das war dann meistens die älteste Tochter, die behielt man am besten für sich, weil man für die Altenpflege auch etwas braucht. Das behaupte ich. Und diese aufbewahrte Person weiblichen Geschlechts war enorm wichtig für den Verwandtschaftszusammenhalt. Das war die berühmte Tante, die immer in Einsatz ging, wenn wieder ein Kindbett anstand oder eine Krankheit oder ein Todesfall. Sie waren, also negativ - eine alte Jungfer - die haben so Schrullen und sind nie aus dem Haus der Eltern rausgegangen. Aber sie waren ungemein nützlich für die Normalität des Lebens in allen Schichten."
"Alte Jungfern" und "Hagestolze" wurden nach dem Glauben bäuerlicher Gesellschaften nach ihrem Tod als Wiedergänger in Sümpfe, Moore oder auf Gletscher verbannt, an Orte, die landwirtschaftlich nicht nutzbar sind. Tiere, dort heimisch, wurden zu ihren Begleitern, etwa der Kiebitz. Sein markant schwarz-weißes Gefieder und die aufrichtbare Haube erinnern an die Tracht einer Nonne – damit wurde auf die vermeintlich unerfüllte Sexualität unverheirateter Frauen angespielt. Sie galt auch später als wesentliche Charaktereigenschaft der alten Jungfer.

Unk, Unk, Unk!
ach, wär ich doch noch jung,
und hätt´ ich einen Mann bekommen
dann wär ich nicht in den Sumpf gekommen
Unk, Unk, Unk
ach, wär ich doch noch jung.

Ein weiterer Tierbegleiter kinderloser Frauen: der Frosch, ebenfalls heimisch an den Verbannungsorten ihrer Seelen, den Mooren und Sümpfen. Sein Quaken wurde als Weinen ungeborener Kinder gedeutet. Über Jahrhunderte tradiert, sind uns die Figuren von der alten Jungfer und dem eingefleischten Junggesellen bis heute vertraut.

Alte Bilder verursachen heute noch Leid

Die Psychologin und Therapeutin Christine Carl: "In meiner Praxis erlebe ich schon häufig, dass für viele, vor allen Frauen, auch im 21. Jahrhundert diese Auseinandersetzung mit der eigenen Kinderlosigkeit auch auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bilder erfolgt und dass schon viele, ob auch im 21. Jahrhundert, schon damit hadern. Und dieser Wert von 'Ein Leben ohne Kinder ist eigentlich nichts wert'. Dass das schon auch Thema ist. Oder darf ich das überhaupt? Mich da für dieses Leben entscheiden? Eben auch im Hinblick auf so alte Bilder, die wir noch alle in den Köpfen haben, diesen alten Jungfern, dass das schon ein Thema ist. Wir nennen das immer so eine Auseinandersetzung mit dem inneren Kritiker, der sehr starre und rigide Erwartungen und Wertvorstellungen an die Person stellt. Das ist schon häufig in den Köpfen der Betreffenden und verursacht Leid."
Anna, geboren 1960, zuletzt Seniorenbetreuerin
Anna hat drei Berufe: Begleitet vom Beifall der Eltern machte die Lebensmittelchemikerin zuerst Karriere in der Lebensmittelüberwachung bis hinauf ins Landwirtschaftsministerium. Zunehmende gesundheitliche Beschwerden gaben den Ausschlag, den Sprung in ein anderes Berufsleben zu wagen: Sie wurde Hebamme. So schaffte sie es, ihren Beruf und ihr Privatleben näher zueinander zu bringen – und sich als ganzheitlicher Mensch zu fühlen. Heute ist Anna als Seniorenbetreuerin im Pflegeheim tätig – noch in diesem Jahr wird sie vorzeitig in Rente gehen.
"Ich habe immer gedacht, Kinder sind das eigentliche Ziel meines Lebens. Ich meine, natürlich Hebamme oder jetzt Seniorenamme, also Amme, ist auch eine Kompensation dieses Zieles, weil wir Ammen sind Obermütter in unserer Rolle. Es hat mir zumindest in dieser Art und Weise ermöglicht, Mutter zu sein. Aber schon diese Sehnsucht und auch die Erinnerung an die Sehnsucht ist immer präsent und die möchte ich eigentlich auch nie verlieren."

Neue Definition von weiblich und männlich

Beim Übergang in das bürgerliche Zeitalter werden Frau und Mann als Gegensatzpaar neu definiert, mit kontrastierenden, sich ergänzenden Eigenschaften. Unsere Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sind davon bis heute geprägt.

Beim Weib behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand: Die Phantasie des Weibes ist lebhafter als die des Mannes, erreicht aber seltener die Höhe und Kühnheit wie bei letzterem.

J. Meyer, Das große Conversationslexikon, 1848

Das Haus wird zur Sphäre der Frau erklärt, die Welt außer Haus zu der des Mannes. Die neue Einteilung in männliche und weibliche Eigenschaften, Geschlechtscharaktere genannt, wurde mit großer Intensität betrieben und über einen Zeitraum vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert erarbeitet. Das beschreibt die Historikerin Karin Hausen in einem auch heute noch bedeutenden Aufsatz. Die Folgen für die Ledigen? Sie finden keinen Platz mehr – aus großen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaften werden Kernfamilien, aus Rügebräuchen im Rahmen der Dorfgemeinde werden Stereotypen, die in großen Auflagen medial verbreitet werden.

Eine Gouvernante erzählt ihrem kleinen Zögling: Denk dir einmal, Franzi, wie ich gestern so spät abends von dir weggehe, steht beim Haus ein verdächtig aussehender Mann. Oh, wie ich gelaufen bin! Franzi: "Nu, hast du ihn bekommen?"

Ob in Gestalt der Tante, der Gouvernante oder auch der Nonne - die Figur der alten Jungfer bietet ein großes Potenzial für Lächerlichkeit – in Witzen und Schwänken, in Karikaturen und Romanen. Ihre Erscheinung und ihr Äußeres folgt dem immergleichen Muster: lange spitze Nase, schwach ausgeprägtes Kinn, fliehende Stirn und ein blasser, gelblicher Teint. Sie ist hager, mit langem Hals, mitunter auch korpulent. Mit ihrem Hang zu unpassender Garderobe versucht sie, sich jünger zu machen als sie ist. Ihr Charakter: affektiert und hysterisch oder pedantisch und humorlos. Sie mischt sich gern in die Angelegenheiten anderer Leute ein.
Karikatur von Eduard Thöny: Weibliche Beamte. "Dass wir ihnen das Brot wegnehmen, haben sich die Männer selbst zuzuschreiben. Warum heiraten sie uns nicht?"
Karikatur von Eduard Thöny: Weibliche Beamte. "Dass wir ihnen das Brot wegnehmen, haben sich die Männer selbst zuzuschreiben. Warum heiraten sie uns nicht?"© Simplicissimus 1905
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es immer mehr vermögenslose bürgerliche und adelige Frauen, die aufgrund ihrer Mittellosigkeit nicht heiraten konnten. Die erste Frauenbewegung machte es sich zur Aufgabe, diesen Frauen dennoch zu einer respektablen Lebensweise zu verhelfen. Eine bessere Bildung und Berufstätigkeit für Frauen waren ihre Forderungen. Lehrerinnen, Büroangestellte oder Fernsprechvermittlerin – sie wurden zunehmend zur Bedrohung für männliche Arbeitnehmer.

Alte-Jungfern-Stereotyp wurde instrumentalisiert

Und nicht nur das: Was sollte aus der bürgerlichen Familie werden, die für Verlässlichkeit und Erholung steht und einen Gegenpol zum Arbeitsmarkt bietet, mit seinen unerbittlichen Gesetzen von Leistung und Konkurrenz, Flexibilität und Mobilität. Antworten auf diese Fragen stehen auch heute noch aus.
Zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts: Was war leichter, als die Schuld den berufstätigen Frauen zu geben und altbekannte Stereotypen aufzuwärmen?
Sigrid, geboren 1940, emeritierte Professorin für Soziologie
Sigrid Metz-Göckel ist 1940 geboren – als kinderlose Professorin war sie lange Zeit der Normalfall. Der Anteil kinderloser Frauen ihres Jahrgangs ist mit elf Prozent noch sehr niedrig. Metz-Göckel gilt als zentrale Figur im Netzwerk der Frauen- und Geschlechterforschung, kämpfte unermüdlich für die Verbesserung der Situation von Frauen in der Wissenschaft und ehrt heute alle zwei Jahre "Aufmüpfige Frauen" in der von ihr gegründeten gleichnamigen Stiftung.
"Als ich Assistentin war und geheiratet hatte, fragte eine Tante von mir: Willst du Professorin werden? Da hab ich gesagt: Neeiin! Ich fand das fast obszön, mir das vorzustellen."
Keine eigenen Kinder zu haben, hat Sigrid zu keinem Zeitpunkt bedrückt. Ihre bemerkenswerte Karriere verdankt die Soziologin nicht nur ihrer eigenen Leistung, sondern auch ihrer Mutter, ihrer Doktormutter und einer Reihe begünstigender Umstände, wie sie selbst betont. 1976 erhält die Soziologin, damals Mitte 30, einen Ruf als Professorin an die frisch gegründete Technische Universität Dortmund. Zunächst war die Tochter einer Kriegswitwe aus Oberschlesien unschlüssig, ob sie dem Ruf folgen sollte.

Sigrid: Meine Kinderlosigkeit ist kein Leid

Ihre Doktormutter, die Soziologin Helge Pross, Autorin einer bekannt gewordenen Studie über Hausfrauen und vieler anderer, ermutigte sie. "Dann hatte ich aber eine Doktormutter, weil als Assistentin musste man promovieren. Ich war gar nicht so begierig, weiß nicht. Dann hat sie gesagt: Natürlich promovieren Sie. Als ich den Ruf bekam, bin ich auch zu ihr hin und habe gesagt: Ich weiß nicht, Dortmund. Ich wusste gar nicht, dass da eine Uni ist. War eine neue. Und da hat sie gesagt: Natürlich nehmen Sie das an. Und dann hat sie einen Satz gesagt, den können Sie zitieren: 'Wenn Sie Professorin sind, dann müssen Sie nicht immer machen, was die anderen sagen. Da können Sie selbst bestimmen.' Das war ein ganz wichtiger Satz."
Die Freiheit von Forschung und Lehre – ein Privileg, das die Professorin künftig immer wieder aufs Neue verteidigen wird. Eines ihrer letzten Forschungsthemen an der Universität: Kinderlosigkeit in der Wissenschaft, insbesondere im Mittelbau. Den Ausschlag dafür gaben nicht biografische, sondern berufspolitische Gründe, betont die Sozialwissenschaftlerin. Ihre eigene Kinderlosigkeit erklärt sie aus der gemeinsamen Geschichte mit ihrem Mann:
"Er hat bei einem Bombenangriff in Bad Kreuznach, seine leiblichen Eltern hatten da eine Autowerkstatt und ein Tanklager und da sind Bomben reingefallen. Er hat beide Eltern und beide Geschwister und auch noch ein, zwei andere Familienangehörige mit diesem Bombenangriff verloren. Er war zufällig bei seiner Großmutter auf dem Land. Es spielte für ihn eine Rolle, dass er eigentlich nie den Wunsch hatte, Kinder zu haben. Und mein Wunsch, Kinder zu haben, war auch nicht besonders ausgeprägt. Vielleicht war auch eine biologische Unverträglichkeit - ich bin einfach nicht schwanger geworden. Sodass ich gar nicht sagen kann - das ist keine Haltung, ist auch kein Leid. Es hat sich so ergeben. Und wir sind damit einverstanden."

Familienleben durch Mobilität beeinträchtigt

"Ich habe unter anderem auch deshalb Kinder nicht vermisst, weil ich sehr enge Beziehungen zu meinen Geschwistern hatte. Die hatten Kinder, und wir haben uns regelmäßig Weihnachten bei meinem Bruder getroffen oder bei meiner Schwester. Sie waren auch alleine hier. Ich habe die kleinen Kinder aufwachsen sehen. Ich finde das so interessant, wie die kleinen Kinder sich die Welt erklären und aneignen. Die haben so eine Spontanität und können so herzlich sein.Wir haben einen Wald, da waren sie im Wald und draußen und unten im Gästezimmer, die haben immer high life gemacht. Das war immer ein Vergnügen."
Nichten und Neffen haben heute selbst Kinder. Die bekommt Sigrid aber nur in großen Abständen zu Gesicht – und vermisst Enkelkinder um sich herum. Zürich und Kopenhagen, wo Nichte und Neffe mit ihren Familien leben, sind einfach zu weit weg.
"Es geht nicht um die biologischen Enkelkinder, sondern um das Zusammenleben mit Kindern, das man nie miterlebt. Ich habe das jetzt auch im Vorstand zu einer Frau gesagt, die ist jetzt Oma geworden. Aber ihre Tochter lebt in Schweinfurt. Sie hat auch das Enkelkind weit weg und zu der Tochter gesagt: 'Alle vier Wochen möchte ich sie sehen.' Da hab ich gesagt: 'Ich kann das gut verstehen. Ich vermisse das, Enkelkinder.'"

Aussöhnung mit der eigenen Kinderlosigkeit

Kinder zu haben, war für Anna ein tiefer Wunsch. Vor einigen Jahren erinnerte sich die Karrierefrau, spätere Hebamme und heutige Seniorenbetreuerin an beeindruckende Frauen aus ihrer Kindheit – ein Prozess der Heilung beginnt. Eine von ihnen: Ihre Tante mütterlicherseits, der Anna bis ins hohe Alter eng verbunden blieb. Alleinstehend, freigeistig und unternehmungslustig, schenkte sie ihrer Nichte Hosen, während die Mutter auf Röcken bestand. Und es gab Tante Sachs, eine enge Freundin der Mutter.
"Wir haben uns mit ihr immer sonntags getroffen für den Kirchgang. Ich fand die Frau immer schon als kleines Kind ganz toll. Sie war Witwe. Sie hat im Krieg einen Militär, einen General oder Oberst, einen höheren Militärangehörigen geheiratet, der im Krieg dann gefallen ist. Dadurch ist sie kinderlos geblieben, war sehr früh Witwe und hat dann auch nicht wieder geheiratet. Sie war Hausdame in einem Hotel. Sie hat ein kleines Apartment in diesem Hotel gehabt, wo wir sie auch besucht haben. Was ich immer schick und hochinteressant fand. Es war ein sehr schönes, sehr gutes Hotel, und sie hatte da diese leitende Funktion, die durchaus weibliche Anteile hatte, weil sie war Leitende des Hauspersonals. Aber sie war halt die Chefin. Das hat mich schon auch beeindruckt und mich unterbewusst beeinflusst. Im Nachhinein ist mir dann so deutlich geworden, sie war für mich schon als Kind so ein bewunderter Stern am Himmel."

Selig sind die Auserwählten,
Die sich liebten und vermählten;
Denn sie tragen hübsche Früchte,
Und so wuchert die Geschichte
Sichtbarlich von Ort zu Ort.

Doch die braven Junggesellen,
Jungfern ohne Ehestellen,
Welche ohne Leibeserben
So als Blattgewächse sterben,
Pflanzen sich durch Knollen fort.

Aus "Kritik des Herzens" von Wilhelm Busch

Die Pfarrerin Christine: "Ich hatte schon Vorbilder, nahe Vorbilder. Die kann ich jetzt gar nicht nennen. Die kennt niemand sonst. Doch! Für mich war Carolin Emcke wichtig. Das war jetzt eine Frau, da kam manches zusammen. Das hat mich doch aufhören lassen, dass eine Frau so offen lebt, doch so eine relative Prominenz hat, klassische Musik liebt. Das war jetzt auch eine Nähe zu ihr - und so cool dabei ist. Das hätte ich nicht erwartet."
Anders als für die Publizistin Carolin Emcke lag ein authentisches Leben als lesbische Frau für Christine lange Zeit im Konflikt mit ihrer christlichen Identität – unter anderem deshalb, weil ein kirchlicher Rahmen für Lesben und Schwule fehlte.

Anerkennung für ein lesbisches Paar

"Das Pfarrhaus ist schon auch immer eine Projektionsfläche - das wird weniger in der städtischen Gesellschaft - aber für die ideale Familienkonstellation. Deshalb wird da genauer drauf geguckt. Deshalb war es für viele lange tolerabel, dass Lesben und Schwule vielleicht in der Seelsorge, im Krankenhaus Dienst tun, aber dass sie Gemeindepfarrerinnen sind, das war schwierig."
Auch Christine war zunächst in der Krankenhausseelsorge tätig, bevor sie Gemeindepfarrerin wurde. Ihre lesbische Identität zu entdecken, empfand sie nicht als Befreiungsschlag. Es fehlte an Rückhalt. Den fand sie in einer Gruppe lesbischer Pfarrerinnen und Pfarrer. Sie waren eine Art Selbsthilfegruppe und kämpften um ihre Anerkennung in der Landeskirche. Sie kam spät.
"Das ist jetzt. Als ich mich hier beworben habe, habe ich mich offen beworben. Es war das erste Mal in meinem Leben – der Kirchengemeinderat hat mich gewählt, obwohl sie wussten, dass ich mit einer Frau lebe. Das habe ich als beglückender Befreiungsschlag erlebt. Als meine Freundin auf ihrer neuen Stelle eingeführt worden ist, war das auch bei ihrer Investitur so offen vor der ganzen Gemeinde. Es gab Beifall, und ich habe ein kleines Pfarrfrauen-Sträußchen gekriegt. Soetwas fand ich jetzt wunderbar, also dieses Level von Anerkennung zu haben."

Produktion dieser "Langen Nacht"
Autorin: Tina Hammesfahr
Regie: Uta Reitz-Rosenfeld
Sprecher / Sprecherinnen: Philipp Schepmann, Claudia Mischke und Justine Hauer
Redaktion: Monika Künzel
Webdarstellung: Tina Hammesfahr

Eine Sendung von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur 2021. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.

Literaturangaben:

Die Kinderfrage heute

Elisabeth Beck-Gernsheim
Verlag C.H. Beck 2006

Leben ohne Kinder
Wenn Frauen keine Mütter sein wollen
Christine Carl
Rowohl Taschenbuch 2002

Kinderlose Frauen und Männer "Ungewollte Kinderlosigkeit im Lebenslauf und Nutzung von Unterstützungsangeboten"
Autor: Prof. Dr. Carsten Wippermann
Publikation der Bundesregierung 2014

Das hübsche Jettchen und ihre Freier, Neuruppiner Bilderbogen, 19. Jahrhundert
Aus: Hagestolz und Alte Jungfer – Entwicklung und Instrumentalisierung von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene
Waxmann Verlag 1997

Selig sind die Auserwählten
Aus: Kritik des Herzens
Wilhelm Busch, Sämtliche Werke I
Bertelsmann 14. Auflage 2017

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