Leben ohne Geburtsurkunde

Geboren, aber unsichtbar

Schatten eines schaukelnden Kindes auf Asphaltboden. Ein Symbolbild für Kinder ohne Geburtsurkunde.
Wer nicht registriert ist, existiert offiziell nicht. Weltweit wächst fast jedes vierte Kind ohne Geburtsurkunde auf. © IMAGO / Depositphotos / Copyright: xGalinkaLBx via imago
Millionen Kinder wachsen ohne Geburtsurkunde auf. Das hat gravierende Folgen für ihre Rechte. Hilfsprojekte, die dem Problem entgegenwirken wollen, stocken – nicht zuletzt wegen Mittelkürzungen unter Donald Trump.
Eine Geburtsurkunde bestätigt offiziell: Dieser Mensch existiert. Doch Millionen Kinder weltweit wachsen ohne sie auf. Ohne Geburtsurkunde bleibt vielen der Zugang zu Schule, Sozialleistungen, Reisepapieren und politischer Teilhabe verwehrt. Einige treibt das in die irreguläre Migration. Fast jedes vierte Kind auf der Welt lebt laut Unicef ohne offiziellen Nachweis, besonders in ländlichen Gebieten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Aber auch in Deutschland gibt es Menschen ohne Geburtsurkunde. Gleichzeitig leiden viele Programme zur Geburtenregistrierung unter den starken Kürzungen der US-Entwicklungshilfe unter der US-Regierung von Donald Trump.

Was bedeutet es, keine Geburtsurkunde zu haben?

Jedes Kind hat nach internationalen Vorgaben ein Recht darauf, unverzüglich nach seiner Geburt registriert zu werden. Festgeschrieben ist dies in mehreren menschenrechtlichen Übereinkommen, unter anderem in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK). Die Registrierung von Geburten ist dabei in den meisten Ländern in den ersten drei Monaten kostenlos. Bescheinigt wird sie durch ein amtliches Dokument: die Geburtsurkunde.
"Eine Geburtsurkunde gibt einem Kind eine legale Existenz, einen offiziellen Namen, eine Nationalität, eine Lebensgrundlage", sagt Amandine Bollinger, die Leiterin für Kinderschutz von Unicef in Angola. Ohne Geburtenregistrierung seien Kinder von Beginn des Lebens an benachteiligt.

Kein Konto, kein Wahlrecht, keinen Job

Die erste Folge sei oft, dass ein Baby ohne Geburtsurkunde keine Schutzimpfungen bekomme, so Bollinger. Kinder – und später Erwachsene – ohne legale Identität können nicht nachweisen, wer sie sind oder wie alt sie sind. Sie können kein Konto eröffnen, ihr Wahlrecht ausüben, Eigentum erwerben, ein Erbe antreten oder sich auf einen Job im legalen Arbeitsmarkt bewerben.
Eine Geburtsurkunde bedeutet aber auch besseren Schutz vor Kinderheirat, illegalen Handel mit Babys und Kleinkindern oder Zwangsarbeit. Zwischen 2020 und 2023 waren laut UN 38 Prozent der 203.000 registrierten Opfer von Menschenhandel Kinder.
Ohne eine Geburtsurkunde werde dem Kind das Recht genommen, Rechte zu haben, sagt Kinderrechtsexperte Bhaskar Mishra vom Kinderhilfswerk Unicef. „Der Staat oder die Regierung ist dann nicht verpflichtet, die Menschenrechte dieses Kindes zu achten oder sich um seine Entwicklung zu kümmern, selbst wenn er es wollte.“

Wo leben besonders viele Menschen ohne Geburtsurkunde?

Unter den zehn Ländern mit den meisten nicht registrierten Kindern stammen sieben aus Afrika und drei aus Südasien. Die größten Einzelstaaten mit besonders vielen betroffenen Kindern sind Nigeria, Äthiopien, die Demokratische Republik Kongo, Indien, Pakistan und Bangladesch. 
2019 veröffentlichte Unicef den Bericht „Birth Registration for Every Child by 2030: Are we on track?“. Dafür wurden Daten aus 174 Ländern ausgewertet. Der Report zeigte, dass der Anteil der registrierten Kinder unter fünf in den vergangenen zehn Jahren weltweit zwar gestiegen war. Aber noch immer fielen zu viele durchs Netz, 150 Millionen Kinder.
Auch in westlichen Ländern wie Deutschland gibt es Menschen ohne Geburtsurkunde. Eigentlich sind die Standesämter verpflichtet, jedes neugeborene Kind zu registrieren. Laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte passiert es trotzdem, dass Kinder hier geboren werden, aber keine oder erst spät eine Geburtsurkunde bekommen, zum Beispiel, wenn ihre Eltern keine Ausweisdokumente vorlegen können. Das betrifft etwa geflüchtete Familien ohne Papiere.

Warum werden so viele Geburten nicht registriert?

Die niedrige Quote an Geburtenregistrierungen hat zahlreiche Ursachen: In Afrika beispielsweise finden Geburten hauptsächlich zu Hause statt, oft in abgelegenen ländlichen Gegenden. Für die Eltern entstehen Kosten für die Reise zur oft weit entfernten Kommune und zusätzlich Gebühren für die Beamten. Wird die Frist verpasst, kann es kompliziert und teuer werden: Vor Gericht muss oft in zwei Verhandlungen die Elternschaft durch Zeugen bestätigt werden. Das ist für viele zu umständlich oder nicht machbar.
Viele Eltern sind auch nicht im Besitz der notwendigen Dokumente, um eine Geburtsurkunde zu beantragen. In manchen Fällen leugnen Männer ihre Vaterschaft oder sind nicht präsent. Dazu kommt, dass zahlreiche Mütter aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus gar nicht wissen, dass ihr Baby registriert werden muss.
Laut Unicef-Experte Bhaskar Mishra wird die Geburtenregistrierung in manchen Regionen auch aus religiösen Gründen abgelehnt. Ein weiteres Problem ist die Überlastung der Behörden. Der Kameruner Politikwissenschaftler Emmanuel Kobela erklärt, viele Kommunen kämen mit den vielen Hausgeburten kaum hinterher. In Nordkamerun etwa bekommt eine Frau im Schnitt sieben Kinder.

Wie hängen fehlende Geburtsurkunden mit Migration zusammen?

Millionen Menschen ohne Geburtsurkunde in Afrika, das verursacht Armut und macht Perspektiven zunichte – Gründe, die die irreguläre Migration Richtung Europa antreiben. Schleusern ist die Geburtsurkunde dabei oft egal.
Doch selbst die, die es nach Europa schaffen, stehen wieder vor der gleichen Hürde: Ohne Ausweisdokumente können sie ihre Identität nicht nachweisen. „Damit sind ihre Chancen auf einen Asylantrag geringer. Oder sie fühlen sich gezwungen, eine falsche oder gefälschte Identität annehmen zu müssen“, erklärt Amandine Bollinger von Unicef.
In der deutschen Debatte wird irregulären Migranten oft unterstellt, dass sie ihre Pässe absichtlich auf der Flucht wegwerfen. Tatsächlich ist es so, dass viele gar keine Ausweisdokumente besitzen.

Was muss passieren, damit mehr Menschen registriert werden?

Weltweit gibt es Bemühungen, dass mehr Kinder registriert werden und eine Geburtsurkunde erhalten. In Deutschland informiert etwa das Deutsche Institut für Menschenrechte auf der Website „recht-auf-geburtsurkunde.de“ über das Thema Geburtenregistrierung. Die Seite bietet einen Wegweiser für Eltern, besonders für geflüchtete Familien, und erklärt im Projekt „Papiere von Anfang an“, warum Geburtsurkunden so wichtig sind, auch für Fachkräfte in Sozialarbeit und Standesämtern.
Unicef-Vertreter laden außerdem in Ländern wie in Kamerun zu Runden Tischen mit Kommunen und Regionalpolitiker ein, um über die Bedeutung von Geburtenregistrierungen aufzuklären. Eben solche Kampagnen hatten bereits in Indien, Nepal und Bangladesch großen Erfolg: Sie führten zur Verdopplung der ausgestellten Geburtsurkunden und zum Aufbau neuer Registrierungszentren.

Donald Trump kürzt Entwicklungshilfe

In den vergangenen fünf Jahren ist der Anteil registrierter Geburten laut Unicef weltweit von 75 auf 77 Prozent gestiegen. Ein wichtiger Fortschritt bei der Sicherung rechtlicher Identität.
Doch es gibt auch Rückschläge. Kinderrechtsexperte Bhaskar Mishra von Unicef koordiniert Registrierungsprojekte in Afrika, Südasien und Südamerika. Wegen Kürzungen der Trump-Regierung fehlen Unicef nun rund 20 Prozent der benötigten Mittel, kritisiert Mishra. Norwegen sprang zuletzt ein, um Projekte für geplante Registrierungszentren in Tansania und Kenia weiterzuführen.
Die Weltbank geht in ihrem letzten Bericht von 500 Millionen Menschen auf dem afrikanischen Kontinent ohne Geburtsurkunden aus. Es würden sechs Milliarden US-Dollar allein für eine digitale Identitätskampagne benötigt werden, um das zu ändern.
Unicef warnt, das Ziel, bis 2030 jedes Kind weltweit zu registrieren, könnte verfehlt werden. Die geplante Digitalisierung müsse schneller vorankommen, ebenso die Verknüpfung von Ausweis- und Gesundheitssystemen. Nur so lasse sich Identitätsdiebstahl, Dokumentenmissbrauch und illegaler Migration wirksam begegnen.

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