Leben in der Parallelwelt
Die pakistanische Stadt Peshawar besteht aus zwei Teilen. Da ist das geschäftige Saddar-Viertel, an das der Khyber-Basar angrenzt. Daneben das Militärviertel: Ein von den Briten angelegter Bereich, in dem sich das Militär hinter Zäunen und hohen Schutzmauern eingeigelt hat.
Wenn Shamim Shahid besonders viele Ambulanzen hört, gibt er den Posten draußen Anweisung, sich hinter die Betonmauer zurückzuziehen. Denn Attentäter schlagen oft zeitgleich an verschiedenen Orten zu. Und der Presseclub gehört zu ihren bevorzugten Zielen.
Shamim Shahid: "Drei Menschen starben neulich hier. Es traf unseren Wächter vor dem Eingang, unseren Schatzmeister und eine unbeteiligte Passantin auf der Straße. 19 andere wurden verletzt."
Egal, wie hart die Auseinandersetzungen auch waren – der Presseclub galt bis vor kurzem noch als sakrosankt, als neutraler Ort, an dem sich auch die stärksten Kontrahenten friedlich auseinandersetzen konnten. Doch seit etwa einem Jahr sind Intellektuelle auf die Abschussliste der Gewalttäter geraten. Aber auch das, meint der Journalist Shamim Shahid, sei schon wieder überholt:
"Der Terrorismus richtet sich inzwischen gegen jeden Bürger, einfach jeder kann zum Ziel werden. Früher gab es hier noch Handel und Wandel, Wirtschaftsleben, Kultur. Nichts mehr ist übrig. Alle Hotels stehen leer."
Im Garten des Presseclubs sitzt an diesem Tag nur ein einziger Gast, Professor Bilshad, emeritierter Englischdozent der Peshawar-Universität. Er rührt in seinem Tee und gibt sich Mühe, dem ausländischen Gast klarzumachen, dass diese blindwütige Gewalt nichts mit den Menschen hier zu tun hat:
"In unserer paschtunischen Tradition wurden beispielsweise immer Frauen respektiert. Niemand konnte eine Frau umbringen, auch bei Blutfehden nicht. Jetzt ist dieser Respekt verschwunden. Frauen werden umgebracht, Kinder ebenfalls. Sie können in ein Haus einbrechen und alle abschlachten. Diese Selbstmordattentate – vielleicht ist das etwas Arabisches, wir kannten das nicht. Wir hatten eine Kultur von Mitleid, Hilfe für die anderen, wir waren glücklich. Jetzt haben wir all unser Glück verloren."
Gab es das jemals - ein glückliches Peshawar, eine Stadt der in sich ruhenden Traditionen, des Friedens und der Brüderlichkeit? Seit Menschengedenken treffen an diesem Ort die Paschtunen aus dem Hinterland, den Bergen an der afghanischen Grenze mit der Bevölkerung der Ebene zusammen, den fruchtbaren Gebieten des Südens. Die heutige Hauptstadt der nordwestlichen Grenzprovinzen war immer eine Drehscheibe, für Ideen nicht minder als für Waren.
Da ist der quirlige Khyber Basar mit seinen immer noch nach Zünften eingeteilten Gassen: Gewürze, Stoffe, Schmuck werden angeboten - und die neuesten Waffen, die in speziellen Vierteln von Handwerkern anhand von Originalen detailgenau kopiert werden. Esel verkehren hier statt Autos, und statt Taxis gibt es Pferdetongas, einfache Karren, die manchmal Waren transportieren, manchmal Passagiere.
Daran angrenzend: Saddar, das moderne Viertel, mit einstöckigen Ladenzeilen und gesichtslosen beigefarbenen Häusern undefinierbaren Alters, durch dessen Verkehrschaos sich bunt geschmückte Lastwagen, Motorrikschas und PKW schieben. Und dann, am Ende des Gewirrs, auf einmal dies:
Das Cantonement, die Militärstadt aus der britischen Kolonialzeit. Breite Alleen, geharkte Wege. Hinter niedrigen Mauern: Englischer Rasen und darin Bungalows. Wegweiser mit Aufschriften wie: "Artillery Officer’s Club", "Officer’s Polo Club".
Die Briten sind schon 1947 abgezogen. Dennoch scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Hier, in der Militärstadt, spielt sich das Leben der Offiziere zwischen Dienst, Sport und Clubnachmittagen ab. Die Militärs und ihre Angehörigen leben im Cantonement wie in einer Parallelgesellschaft. Eigene Krankenhäuser und eigene Schulen bewahren sie vorm Bildungs- und Gesundheitsnotstand, dem der zivile Rest der Pakistanis ausgesetzt ist. Wer als Gast der traditionsreichen Grenztruppe, des Frontier Corps, hier eingeladen ist, könnte sich noch immer in der Kolonialzeit wähnen, umgeben von Zombies, von Untoten, von Wiedergängern britischer Offiziere. Vor einer Offiziersmesse ist auf englischem Rasen eine Gruppe bunt gewandeter Stammeskrieger angetreten. Zwei Sessel stehen vor ihnen, einer für den kommandierenden Major, ein anderer für seinen Gast.
Major: "Die Tänzer, die Sie jetzt sehen werden, sind Soldaten unseres Regiments, der Khyber Rifles. Es ist ihnen die Erlaubnis erteilt worden, sich für diese Art von Wirbeltänzen die Haare länger wachsen zu lassen. Immer, wenn das Regiment Gäste empfängt, führen sie ihre Tänze vor. Ansonsten kommen sie ihren normalen militärischen Pflichten nach."
Dann zieht eine Kapelle in Khaki-Uniformen und Turbanen auf und beginnt todernst, mit versteinerten Mienen und Dudelsack blasend um die zwei Sessel herumzumarschieren.
Anschließend bittet der gastgebende Major zum Essen. Auf einem Podest im Speisesaal sitzt das Messe-Orchester und spielt paschtunische Weisen. An einer strahlend weißen Tafel sind zwei Gedecke aufgelegt und hinter jedem der zwei Stühle steht ein weiß uniformierter Diener mit rotem Turban. In einer geblümten Porzellanschüssel tragen Ordonnanzen eine duftende Suppe auf. Das Protokoll, sagt der Major, sei seit Menschengedenken schon dasselbe, vermutlich seit 1878, als das Frontier Corps gegründet wurde:
"Ich würde sagen: Zu 80 Prozent folgen die pakistanischen Streitkräfte den Traditionen der britisch-indischen Armee. Vor hundert Jahren meinte man: Wer immer den Khyber-Pass beherrscht, beherrscht auch Delhi. Das stimmt. Wenn man von der afghanischen Seite eine Invasion vorhat, muss man nur den Khyber-Pass überwinden und anschließend ist die Bahn frei."
Eine Kolonialzeit, die nicht enden will. Eine zweigeteilte Bevölkerung in einer zweigeteilten Stadt – Privilegierte und Nichtpriviligierte fein säuberlich voneinander getrennt – wie kann eine Gesellschaft dies auf Dauer aushalten? Dr. Shajahan, dem Leiter der Fakultät für Medien an der Universität von Peshawar, ist die Doppelwelt von Kindheit an vertraut:
"Militär hat hier eine Geschichte in diesem Land, 1947 wurde Pakistan unabhängig von dem indischen Subkontinent und seit 1958 haben wir immer wieder Militär an der Macht. Das heißt, die Leute haben das direkt oder indirekt akzeptiert. Weil unsere politischen Parteien auch nicht richtig die Rolle gespielt haben, die sie spielen sollten."
Doch in dieser Spaltung der Stadt, des Landes, der ganzen Gesellschaft war von Anfang an der Keim zu Unheil angelegt. Seit der Staatsgründung 1947 benutzte das Militär die Zivilbevölkerung als Verfügungsmasse für seine eigene strategische Agenda. Ging es zu britischen Zeiten um den Schutz des indischen Hinterlandes, geht es heute den pakistanischen Militärs darum, Afghanistan als Hinterland zu nutzen, als ewige Einflusszone. Dazu ist fast jedes Mittel recht. Als die Sowjetunion 1979 Afghanistan besetzte, förderte der pakistanische Geheimdienst im Einvernehmen mit den USA die afghanischen Mudschaheddin. Und seit Mitte der 1990er-Jahre trainierte das traditionsreiche Frontier Corps die Taliban - ebenfalls im Einvernehmen mit den großen Verbündeten.
"Die Taliban wurden in Pakistan rekrutiert und aus bestimmten Splittergruppen geschaffen, und zwar durch die damalige People’s Party-Regierung unter der Regierung Benazir Bhuttos. Sie wurden unterstützt von den Amerikanern und den Briten. Der britische Botschafter Lord Barrington persönlich war Teil dieser Konspiration."
... sagt ein Ex-Militär, der "Major Mohammed" genannt werden will. Er sollte es wissen, denn er war damals Offizier im pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI:
"Ich kann Ihnen nicht sagen, ob der ISI den Taliban auch heutzutage noch Geld gibt. Aber der ganze Aufruhr, den wir in Peshawar haben, rührt einzig und allein daher, dass wir auf Seiten der Amerikaner sind! Würden wir heute sagen: Auf Wiedersehen, Amerikaner, wir sind nicht mehr für euch – sofort hätten wir hier Frieden, alle Probleme wären gelöst. Und diese so genannten Taliban würden der pakistanischen Armee die Stiefel lecken."
"Major Mohammed" wohnt in einem komfortablen Bungalow in einem Randbezirk der Stadt. Es gehört zum guten Ton, seine Geheimdienstvergangenheit nicht direkt anzusprechen. Aber Politiker und Journalisten zapfen den älteren Herrn mit dem gepflegten weißen Knebelbart gern als Informationsquelle an. Eine der beliebtesten Fragen an ihn ist: Unterstützt der ISI die Taliban auch heute noch?
"Gott allein weiß, warum die Amerikaner nicht mit uns zufrieden sind. Wenn unsere Armee noch immer die Taliban unterstützen sollte – warum sollte sie dann andererseits in den Stammesgebieten gegen die Taliban kämpfen? Warum sollte die Armee derartige Verluste in Kauf nehmen? 6000 Mann?"
Die Taliban von heute, sagt er, hätten nichts mehr mit denen der 90er-Jahre zu tun:
"Wir haben selber keine Ahnung, was für Leute das inzwischen sind. Bei Gott, wenn wir aus dem Haus gehen, wissen wir nicht, ob wir wieder zurück kommen. Meine eigene Frau wurde bei einem Anschlag verletzt. Die haben eine Mädchenschule neben meinem Haus gesprengt, weil sie gegen die Ausbildung von Mädchen sind. Die Splitter haben meine Frau getroffen. Niemand weiß, woher diese Leute ihre Ausrüstung bekommen, wer sie ausbildet."
Für den Medienprofessor Shajahan dagegen ist das eine offiziöse Schutzbehauptung. Die Taliban, da ist er sicher, werden bis heute aus dem pakistanischen ISI heraus gesteuert:
"Man kann sagen ja, dass eine Gruppe vom Geheimdienst beschützt wird. Wenn das wirklich so ist, dann wird das an einem bestimmten Ort alles gut geplant. Innerhalb der Geheimdienste gibt’s verschiedene Gruppen und eine Gruppe davon ist immer noch davon überzeugt, dass, wenn die Amerikaner oder die westliche Allianz von Afghanistan weg ist – wer wird die Lücke da füllen?"
Hamid Jan, ein junger Soziologe aus Peshawar, arbeitet für CAMP, eine internationale Hilfsorganisation, finanziert von westlichen Botschaften und internationalen Stiftungen. CAMP fördert in den nahen Stammesgebieten die Alphabetisierung, aber auch Initiativen, die den Dialog zwischen unterschiedlichen Konfliktparteien anbahnen sollen. Tagtäglich fährt er zwischen Peshwawar und den nur 30 Kilometer entfernten Stammesgebieten hin und her. Immer wieder beobachtet er dabei, wie lokale Taliban-Kommandeure mit Geld geradezu um sich werfen:
"Ein Polizist verdient hier 10.000 Rupien. Aber wenn du dich den Taliban anschließt, verdienst du 25.000 Rupien im Monat. Neulich saß ich mit zwei Leuten aus den Stammesgebieten zusammen. Der eine sagte: Ich kriege Ärger, weil ich ein Diplom in Englisch habe. Wenn wir eine Taliban-Regierung bekommen, werden sie mich für meine westliche Bildung bestrafen. Der andere sagte: Mach dir keine Sorgen. Wenn die Taliban-Regierung kommt, suchen wir uns eine Stelle bei denen. Guck mal, wie gut sie schon jetzt bezahlen. Wenn die am Ruder sind, haben wir ausgesorgt. So denken hier die meisten."
Der pakistanische Geheimdienst, meint er, könne das unmöglich alles allein bezahlen. Aber wer soll sonst unter den Geldgebern des Terrors sein? Die Finger der ortsansässigen Beobachter richten sich auf die üblichen Verdächtigen:
"Viele hier glauben, dass nicht unsere Regierung dahinter steckt, sondern Indien hat seine Hand im Spiel, Indien und der israelische Geheimdienst Mossad, die CIA. Sie, meinen viele, rekrutieren die Selbstmordattentäter, sie geben ihnen das viele Geld. Die NATO will, dass Pakistan zu existieren aufhört, die NATO will teilen und herrschen, wenn Pakistan zerfällt, gibt es nach Auffassung der NATO vielleicht endlich Frieden in Afghanistan."
Tatsächlich dürften die Ursachen wohl eher in einer Dezentralisierung der Taliban-Bewegung liegen. Zahlreiche selbsternannte kleine Kommandeure beziehen Geld aus den unterschiedlichsten internationalen Kanälen – oder treiben es auch selbst mithilfe von Erpressung ein. Das Problem ist hochkomplex:
"Peshawar ist zum Kriegsgebiet geworden. Du weißt nicht, wann und wo der nächste Selbstmordbomber zuschlägt. Sieh selbst, überall Checkpoints, überall Straßensperren. In einer halben oder Dreiviertelstunde kann man von hier aus in den Stammesgebieten sein. Das macht die Lage in der Stadt gefährlich. Diese Stadt ist drauf und dran, in die Hände der Taliban überzugehen."
Betonmauern, Stacheldraht, Maschinengewehrnester. Die Militärs trauen sich seit etwa einem Jahr nicht mehr in Uniform aus ihrer Stadt heraus. Die Geister, die sie einst gerufen haben, wenden sich gegen ihre ehemaligen Herren. Wer vom Militärviertel aus in einen anderen Stadtteil fahren will, wird kontrolliert wie an der Grenze eines fremden Landes.
Professor Shajahan: "Wenn man da reingeht, man hat so Gefühle: Ach, Mensch, die könnten auf mich schießen und da hat man echt Angst, das hab ich auch ab und zu. Und mal haben sie gesagt: Wenn Sie nächstes Mal so ohne zu fragen hier reinkommen, werden wir Sie schießen."
Bei Professor Shajahan haben sich am Abend ein paar Kollegen im Garten zusammengefunden. Sie rauchen, trinken Tee und hängen den vergangenen Zeiten nach. Auch Mr. Bilshad, der Englischprofessor aus dem Presseclub, ist eingeladen. Dass er pensioniert wurde, hält er für ein Glück. Mit der Bildung gehe es bergab. Wer sich mit anderen Kulturen, anderen Ideen, anderen Sprachen auseinandersetze, der gelte bei den jungen Fanatikern von heute schon als Feind.
Professor Bilshad: "Weil ich Professor für englische Literatur bin, sagen die Leute heute über mich: Dieser Mann ist der Mann der Engländer. Sogar an meiner eigenen alten Universität höre ich jetzt: Die von der Englischfakultät sind gefährlich, wahrscheinlich gehen sie nicht mal regelmäßig zur Moschee. Und sie reden ja auch in fremden Zungen. Die Existenzgrundlage unserer gesamten Gesellschaft ist zerstört."
In Peshawar ist die ursprünglich nostalgisch verbrämte, britisch-koloniale Teilung der Stadt zum Horrorszenario geworden. Heute gleicht das Antlitz des Militärviertels von Peshawar einer hässlichen Fratze, trotz seines englischen Rasens, seiner Blumenrabatten, geharkten Wege, weißen Handschuhe und Porzellantassen mit Blumenmuster.
Shamim Shahid: "Drei Menschen starben neulich hier. Es traf unseren Wächter vor dem Eingang, unseren Schatzmeister und eine unbeteiligte Passantin auf der Straße. 19 andere wurden verletzt."
Egal, wie hart die Auseinandersetzungen auch waren – der Presseclub galt bis vor kurzem noch als sakrosankt, als neutraler Ort, an dem sich auch die stärksten Kontrahenten friedlich auseinandersetzen konnten. Doch seit etwa einem Jahr sind Intellektuelle auf die Abschussliste der Gewalttäter geraten. Aber auch das, meint der Journalist Shamim Shahid, sei schon wieder überholt:
"Der Terrorismus richtet sich inzwischen gegen jeden Bürger, einfach jeder kann zum Ziel werden. Früher gab es hier noch Handel und Wandel, Wirtschaftsleben, Kultur. Nichts mehr ist übrig. Alle Hotels stehen leer."
Im Garten des Presseclubs sitzt an diesem Tag nur ein einziger Gast, Professor Bilshad, emeritierter Englischdozent der Peshawar-Universität. Er rührt in seinem Tee und gibt sich Mühe, dem ausländischen Gast klarzumachen, dass diese blindwütige Gewalt nichts mit den Menschen hier zu tun hat:
"In unserer paschtunischen Tradition wurden beispielsweise immer Frauen respektiert. Niemand konnte eine Frau umbringen, auch bei Blutfehden nicht. Jetzt ist dieser Respekt verschwunden. Frauen werden umgebracht, Kinder ebenfalls. Sie können in ein Haus einbrechen und alle abschlachten. Diese Selbstmordattentate – vielleicht ist das etwas Arabisches, wir kannten das nicht. Wir hatten eine Kultur von Mitleid, Hilfe für die anderen, wir waren glücklich. Jetzt haben wir all unser Glück verloren."
Gab es das jemals - ein glückliches Peshawar, eine Stadt der in sich ruhenden Traditionen, des Friedens und der Brüderlichkeit? Seit Menschengedenken treffen an diesem Ort die Paschtunen aus dem Hinterland, den Bergen an der afghanischen Grenze mit der Bevölkerung der Ebene zusammen, den fruchtbaren Gebieten des Südens. Die heutige Hauptstadt der nordwestlichen Grenzprovinzen war immer eine Drehscheibe, für Ideen nicht minder als für Waren.
Da ist der quirlige Khyber Basar mit seinen immer noch nach Zünften eingeteilten Gassen: Gewürze, Stoffe, Schmuck werden angeboten - und die neuesten Waffen, die in speziellen Vierteln von Handwerkern anhand von Originalen detailgenau kopiert werden. Esel verkehren hier statt Autos, und statt Taxis gibt es Pferdetongas, einfache Karren, die manchmal Waren transportieren, manchmal Passagiere.
Daran angrenzend: Saddar, das moderne Viertel, mit einstöckigen Ladenzeilen und gesichtslosen beigefarbenen Häusern undefinierbaren Alters, durch dessen Verkehrschaos sich bunt geschmückte Lastwagen, Motorrikschas und PKW schieben. Und dann, am Ende des Gewirrs, auf einmal dies:
Das Cantonement, die Militärstadt aus der britischen Kolonialzeit. Breite Alleen, geharkte Wege. Hinter niedrigen Mauern: Englischer Rasen und darin Bungalows. Wegweiser mit Aufschriften wie: "Artillery Officer’s Club", "Officer’s Polo Club".
Die Briten sind schon 1947 abgezogen. Dennoch scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Hier, in der Militärstadt, spielt sich das Leben der Offiziere zwischen Dienst, Sport und Clubnachmittagen ab. Die Militärs und ihre Angehörigen leben im Cantonement wie in einer Parallelgesellschaft. Eigene Krankenhäuser und eigene Schulen bewahren sie vorm Bildungs- und Gesundheitsnotstand, dem der zivile Rest der Pakistanis ausgesetzt ist. Wer als Gast der traditionsreichen Grenztruppe, des Frontier Corps, hier eingeladen ist, könnte sich noch immer in der Kolonialzeit wähnen, umgeben von Zombies, von Untoten, von Wiedergängern britischer Offiziere. Vor einer Offiziersmesse ist auf englischem Rasen eine Gruppe bunt gewandeter Stammeskrieger angetreten. Zwei Sessel stehen vor ihnen, einer für den kommandierenden Major, ein anderer für seinen Gast.
Major: "Die Tänzer, die Sie jetzt sehen werden, sind Soldaten unseres Regiments, der Khyber Rifles. Es ist ihnen die Erlaubnis erteilt worden, sich für diese Art von Wirbeltänzen die Haare länger wachsen zu lassen. Immer, wenn das Regiment Gäste empfängt, führen sie ihre Tänze vor. Ansonsten kommen sie ihren normalen militärischen Pflichten nach."
Dann zieht eine Kapelle in Khaki-Uniformen und Turbanen auf und beginnt todernst, mit versteinerten Mienen und Dudelsack blasend um die zwei Sessel herumzumarschieren.
Anschließend bittet der gastgebende Major zum Essen. Auf einem Podest im Speisesaal sitzt das Messe-Orchester und spielt paschtunische Weisen. An einer strahlend weißen Tafel sind zwei Gedecke aufgelegt und hinter jedem der zwei Stühle steht ein weiß uniformierter Diener mit rotem Turban. In einer geblümten Porzellanschüssel tragen Ordonnanzen eine duftende Suppe auf. Das Protokoll, sagt der Major, sei seit Menschengedenken schon dasselbe, vermutlich seit 1878, als das Frontier Corps gegründet wurde:
"Ich würde sagen: Zu 80 Prozent folgen die pakistanischen Streitkräfte den Traditionen der britisch-indischen Armee. Vor hundert Jahren meinte man: Wer immer den Khyber-Pass beherrscht, beherrscht auch Delhi. Das stimmt. Wenn man von der afghanischen Seite eine Invasion vorhat, muss man nur den Khyber-Pass überwinden und anschließend ist die Bahn frei."
Eine Kolonialzeit, die nicht enden will. Eine zweigeteilte Bevölkerung in einer zweigeteilten Stadt – Privilegierte und Nichtpriviligierte fein säuberlich voneinander getrennt – wie kann eine Gesellschaft dies auf Dauer aushalten? Dr. Shajahan, dem Leiter der Fakultät für Medien an der Universität von Peshawar, ist die Doppelwelt von Kindheit an vertraut:
"Militär hat hier eine Geschichte in diesem Land, 1947 wurde Pakistan unabhängig von dem indischen Subkontinent und seit 1958 haben wir immer wieder Militär an der Macht. Das heißt, die Leute haben das direkt oder indirekt akzeptiert. Weil unsere politischen Parteien auch nicht richtig die Rolle gespielt haben, die sie spielen sollten."
Doch in dieser Spaltung der Stadt, des Landes, der ganzen Gesellschaft war von Anfang an der Keim zu Unheil angelegt. Seit der Staatsgründung 1947 benutzte das Militär die Zivilbevölkerung als Verfügungsmasse für seine eigene strategische Agenda. Ging es zu britischen Zeiten um den Schutz des indischen Hinterlandes, geht es heute den pakistanischen Militärs darum, Afghanistan als Hinterland zu nutzen, als ewige Einflusszone. Dazu ist fast jedes Mittel recht. Als die Sowjetunion 1979 Afghanistan besetzte, förderte der pakistanische Geheimdienst im Einvernehmen mit den USA die afghanischen Mudschaheddin. Und seit Mitte der 1990er-Jahre trainierte das traditionsreiche Frontier Corps die Taliban - ebenfalls im Einvernehmen mit den großen Verbündeten.
"Die Taliban wurden in Pakistan rekrutiert und aus bestimmten Splittergruppen geschaffen, und zwar durch die damalige People’s Party-Regierung unter der Regierung Benazir Bhuttos. Sie wurden unterstützt von den Amerikanern und den Briten. Der britische Botschafter Lord Barrington persönlich war Teil dieser Konspiration."
... sagt ein Ex-Militär, der "Major Mohammed" genannt werden will. Er sollte es wissen, denn er war damals Offizier im pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI:
"Ich kann Ihnen nicht sagen, ob der ISI den Taliban auch heutzutage noch Geld gibt. Aber der ganze Aufruhr, den wir in Peshawar haben, rührt einzig und allein daher, dass wir auf Seiten der Amerikaner sind! Würden wir heute sagen: Auf Wiedersehen, Amerikaner, wir sind nicht mehr für euch – sofort hätten wir hier Frieden, alle Probleme wären gelöst. Und diese so genannten Taliban würden der pakistanischen Armee die Stiefel lecken."
"Major Mohammed" wohnt in einem komfortablen Bungalow in einem Randbezirk der Stadt. Es gehört zum guten Ton, seine Geheimdienstvergangenheit nicht direkt anzusprechen. Aber Politiker und Journalisten zapfen den älteren Herrn mit dem gepflegten weißen Knebelbart gern als Informationsquelle an. Eine der beliebtesten Fragen an ihn ist: Unterstützt der ISI die Taliban auch heute noch?
"Gott allein weiß, warum die Amerikaner nicht mit uns zufrieden sind. Wenn unsere Armee noch immer die Taliban unterstützen sollte – warum sollte sie dann andererseits in den Stammesgebieten gegen die Taliban kämpfen? Warum sollte die Armee derartige Verluste in Kauf nehmen? 6000 Mann?"
Die Taliban von heute, sagt er, hätten nichts mehr mit denen der 90er-Jahre zu tun:
"Wir haben selber keine Ahnung, was für Leute das inzwischen sind. Bei Gott, wenn wir aus dem Haus gehen, wissen wir nicht, ob wir wieder zurück kommen. Meine eigene Frau wurde bei einem Anschlag verletzt. Die haben eine Mädchenschule neben meinem Haus gesprengt, weil sie gegen die Ausbildung von Mädchen sind. Die Splitter haben meine Frau getroffen. Niemand weiß, woher diese Leute ihre Ausrüstung bekommen, wer sie ausbildet."
Für den Medienprofessor Shajahan dagegen ist das eine offiziöse Schutzbehauptung. Die Taliban, da ist er sicher, werden bis heute aus dem pakistanischen ISI heraus gesteuert:
"Man kann sagen ja, dass eine Gruppe vom Geheimdienst beschützt wird. Wenn das wirklich so ist, dann wird das an einem bestimmten Ort alles gut geplant. Innerhalb der Geheimdienste gibt’s verschiedene Gruppen und eine Gruppe davon ist immer noch davon überzeugt, dass, wenn die Amerikaner oder die westliche Allianz von Afghanistan weg ist – wer wird die Lücke da füllen?"
Hamid Jan, ein junger Soziologe aus Peshawar, arbeitet für CAMP, eine internationale Hilfsorganisation, finanziert von westlichen Botschaften und internationalen Stiftungen. CAMP fördert in den nahen Stammesgebieten die Alphabetisierung, aber auch Initiativen, die den Dialog zwischen unterschiedlichen Konfliktparteien anbahnen sollen. Tagtäglich fährt er zwischen Peshwawar und den nur 30 Kilometer entfernten Stammesgebieten hin und her. Immer wieder beobachtet er dabei, wie lokale Taliban-Kommandeure mit Geld geradezu um sich werfen:
"Ein Polizist verdient hier 10.000 Rupien. Aber wenn du dich den Taliban anschließt, verdienst du 25.000 Rupien im Monat. Neulich saß ich mit zwei Leuten aus den Stammesgebieten zusammen. Der eine sagte: Ich kriege Ärger, weil ich ein Diplom in Englisch habe. Wenn wir eine Taliban-Regierung bekommen, werden sie mich für meine westliche Bildung bestrafen. Der andere sagte: Mach dir keine Sorgen. Wenn die Taliban-Regierung kommt, suchen wir uns eine Stelle bei denen. Guck mal, wie gut sie schon jetzt bezahlen. Wenn die am Ruder sind, haben wir ausgesorgt. So denken hier die meisten."
Der pakistanische Geheimdienst, meint er, könne das unmöglich alles allein bezahlen. Aber wer soll sonst unter den Geldgebern des Terrors sein? Die Finger der ortsansässigen Beobachter richten sich auf die üblichen Verdächtigen:
"Viele hier glauben, dass nicht unsere Regierung dahinter steckt, sondern Indien hat seine Hand im Spiel, Indien und der israelische Geheimdienst Mossad, die CIA. Sie, meinen viele, rekrutieren die Selbstmordattentäter, sie geben ihnen das viele Geld. Die NATO will, dass Pakistan zu existieren aufhört, die NATO will teilen und herrschen, wenn Pakistan zerfällt, gibt es nach Auffassung der NATO vielleicht endlich Frieden in Afghanistan."
Tatsächlich dürften die Ursachen wohl eher in einer Dezentralisierung der Taliban-Bewegung liegen. Zahlreiche selbsternannte kleine Kommandeure beziehen Geld aus den unterschiedlichsten internationalen Kanälen – oder treiben es auch selbst mithilfe von Erpressung ein. Das Problem ist hochkomplex:
"Peshawar ist zum Kriegsgebiet geworden. Du weißt nicht, wann und wo der nächste Selbstmordbomber zuschlägt. Sieh selbst, überall Checkpoints, überall Straßensperren. In einer halben oder Dreiviertelstunde kann man von hier aus in den Stammesgebieten sein. Das macht die Lage in der Stadt gefährlich. Diese Stadt ist drauf und dran, in die Hände der Taliban überzugehen."
Betonmauern, Stacheldraht, Maschinengewehrnester. Die Militärs trauen sich seit etwa einem Jahr nicht mehr in Uniform aus ihrer Stadt heraus. Die Geister, die sie einst gerufen haben, wenden sich gegen ihre ehemaligen Herren. Wer vom Militärviertel aus in einen anderen Stadtteil fahren will, wird kontrolliert wie an der Grenze eines fremden Landes.
Professor Shajahan: "Wenn man da reingeht, man hat so Gefühle: Ach, Mensch, die könnten auf mich schießen und da hat man echt Angst, das hab ich auch ab und zu. Und mal haben sie gesagt: Wenn Sie nächstes Mal so ohne zu fragen hier reinkommen, werden wir Sie schießen."
Bei Professor Shajahan haben sich am Abend ein paar Kollegen im Garten zusammengefunden. Sie rauchen, trinken Tee und hängen den vergangenen Zeiten nach. Auch Mr. Bilshad, der Englischprofessor aus dem Presseclub, ist eingeladen. Dass er pensioniert wurde, hält er für ein Glück. Mit der Bildung gehe es bergab. Wer sich mit anderen Kulturen, anderen Ideen, anderen Sprachen auseinandersetze, der gelte bei den jungen Fanatikern von heute schon als Feind.
Professor Bilshad: "Weil ich Professor für englische Literatur bin, sagen die Leute heute über mich: Dieser Mann ist der Mann der Engländer. Sogar an meiner eigenen alten Universität höre ich jetzt: Die von der Englischfakultät sind gefährlich, wahrscheinlich gehen sie nicht mal regelmäßig zur Moschee. Und sie reden ja auch in fremden Zungen. Die Existenzgrundlage unserer gesamten Gesellschaft ist zerstört."
In Peshawar ist die ursprünglich nostalgisch verbrämte, britisch-koloniale Teilung der Stadt zum Horrorszenario geworden. Heute gleicht das Antlitz des Militärviertels von Peshawar einer hässlichen Fratze, trotz seines englischen Rasens, seiner Blumenrabatten, geharkten Wege, weißen Handschuhe und Porzellantassen mit Blumenmuster.