Feudale Strukturen, demokratische Fassade

Sven Hansen im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 15.06.2011
Seit dem Hochwasser 2010 sind Millionen Pakistani von internationaler Hilfe abhängig. Von dieser Unterstützung profitierten am meisten die Großgrundbesitzer, beklagt der Asienkenner Sven Hansen, der als "Taz"-Reporter das Land bereiste.
Liane von Billerbeck: Pakistan – da denkt man an Atomwaffen, den Konflikt mit Indien um Kaschmir und Osama Bin Laden, der dort von US-Elitesoldaten getötet wurde. Fast schon vergessen ist die Hochwasserflut, die im vorigen Sommer riesige Flächen in Pakistan überschwemmt hat. Das Vieh ertrank im Wasser, Millionen Pakistani verloren ihre Häuser und sind von internationaler Hilfe abhängig. Doch kommt das Geld auch bei den Bedürftigen an? Unter anderem diese Frage soll uns jetzt Sven Hansen beantworten. Er ist Asienredakteur der Berliner Tageszeitung "taz" und vor einigen Tagen von einer Journalistenreise nach Pakistan zurückgekommen und jetzt bei uns im Studio. Herzlich Willkommen!

Sven Hansen: Ja, guten Tag!

von Billerbeck: Sie waren in Islamabad und in der ländlichen Provinz, dort waren sieben Millionen Menschen vom Hochwasser betroffen, jedes zweite Haus wurde von den Wassermassen zerstört. Wie sieht es dort heute aus, fast ein Jahr nach der großen Flut?

Hansen: Ja, die Zeit seitdem ist ja in verschiedenen Phasen verlaufen, also erst gab es die Nothilfephase, da fehlte es vor allem an Trinkwasser, erstmal das direkte Überleben musste gesichert werden. Mittlerweile sind wir in der Wiederaufbauphase, das heißt, die Leute haben jetzt sozusagen überlebt, die schlimmsten befürchteten Katastrophen wie Seuchen und so weiter sind weitgehend ausgeblieben, jetzt geht es darum, langfristig das Überleben der Menschen zu sichern und nach und nach die Häuser wieder aufzubauen.

von Billerbeck: Das heißt, es haben noch nicht alle, die dort vom Hochwasser betroffen waren, auch wieder ein eigenes Haus?

Hansen: Nein, man sagt, ungefähr 1,1 Millionen der bis zu 1,8 Millionen zerstörten Häuser wurden wieder aufgebaut, wobei – man muss genau hingucken: Was ist mit Häusern gemeint? Da gibt es sehr verschiedene Kategorien. Die meisten Häuser sind aus Lehm, und Lehmhäuser werden bei der nächsten Flut wieder kaputtgehen. Man kann aber nicht einfach ein anderes Haus hinbauen, weil das hat rechtliche Fragen, die mit der Landfrage verbunden sind.

von Billerbeck: Erklären Sie uns das!

Hansen: Ja, ungefähr 80 Prozent der Betroffenen, von der Flut Betroffenen sind Pächter, und Pächter dürfen nur Lehmhäuser haben, weil sie keinen Landtitel haben. Lehmhäuser gelten als nicht permanente Gebäude, ihnen gehört ja nicht das Land, also müssen sie so ein nicht permanentes Gebäude haben. Lehm ist bekanntlich ... bei Wasser löst sich das auf, und diese Fluten waren jetzt zwar außergewöhnlich in ihrem Ausmaß, aber Fluten selber sind ja in der Regenzeit, in der Monsunzeit normal, das heißt, man muss immer wieder damit rechnen, dass diese Häuser zerstört werden.

von Billerbeck: Das heißt also, das kann passieren, dass alles, was da jetzt gebaut worden ist an Lehmhäusern, sich auch wieder auflöst bei der nächsten großen Flut?

Hansen: Ja, man muss auch sagen, die Lehmhäuser haben die Menschen weitgehend selber aufgebaut, da haben sie gar nicht so viel Hilfe für bekommen. Vereinzelt sind auch Steinhäuser oder Betonhäuser gebaut worden, und das ist eben das Verrückte an dieser ganzen Katastrophe und an dieser Frage der Hilfe, dass diese Hilfe auf sehr ungerechte Strukturen trifft und sich natürlich für jede Hilfsorganisation die Frage stellt: Was bewirke ich mit meiner Hilfe? Stärke ich diese ungerechten Strukturen? Kommt meine Hilfe vielleicht sogar denen zugute, denen es noch am besten geht, und die, die wenig oder gar nichts haben, bekommen von dieser Hilfe wenig ab? Also das sind enorm schwierige Fragen, da muss man sehr genau hingucken, wem man hilft.

von Billerbeck: Was heißt denn ungerechte Strukturen? Können Sie uns das mal genauer schildern?

Hansen: Na ja, Sie können quasi ... bei einem Lehmhaus kann man nicht viel helfen, weil das ist quasi lokales Material, da kann man vielleicht so Food-for-Work-Programme machen, dass die Leute quasi ein bisschen Geld bekommen dafür, dass sie die Häuser wieder bauen, aber selbst wenn ich den Leuten Saatgut gebe, was eine der denke ich sinnvollen Maßnahmen ist – weil das versucht ja die Leute dann aus der Abhängigkeit zu befreien, indem sie in der Lage sind, selber für ihr Einkommen zu sorgen, also zumindest bis zur Ernte, die jetzt im April, Mai war, bis dahin musste man die Leute weitgehend durchfüttern –, ... aber wenn man ihnen im Oktober, November Saatgut gegeben hat, konnten sie das anbauen, also das war überwiegend Weizen, aber wenn sie Pächter sind, müssen sie die Hälfte bis zwei Drittel der Ernte abgeben. Die Ironie ist jetzt, dass es eine Rekordernte gab. Also zum einen ist ja durch das Hochwasser insgesamt der Grundwasserspiegel gestiegen, das Saatgut, was die Leute bekommen haben, war in der Regel recht gut, sie haben meist auch noch Dünger bekommen, also es gab jetzt eine absolute Rekordernte.

von Billerbeck: Das hätte ihnen doch eigentlich nutzen müssen?

Hansen: Ja, das wäre schön, wenn es so wäre. Es hat ihnen natürlich jetzt auch in dem Sinne nicht geschadet, nur die Gesamtsituation ist ja so, dass sie auch hohe Verluste hatten. Also sie mussten Wasserpumpen reparieren, sie mussten ihr Vieh verkaufen – das ist ja sozusagen der Notgroschen des Bauern, das Vieh –, und sie sind in eine Verschuldung von den Großgrundbesitzern geraten und mussten jetzt die Schulden abzahlen beziehungsweise sie können sie gar nicht abzahlen, einen Teil halt zurückzahlen. Und insgesamt, trotz Rekordernte, sind die Schulden zum Teil dann noch gestiegen.

von Billerbeck: Das heißt, weil sie die Hälfte eben an die Großgrundbesitzer abgeben müssen?

Hansen: Ja, man kann im Grunde sagen: Auch der Großgrundbesitzer profitiert von der internationalen Hilfe und von der Rekordernte, während - der Bauer hat zwar überlebt oder die Bauersfamilie, aber letztlich ist an der Schuldensituation wenig verändert, teilweise muss man genau hingucken: Bei manchen Bauern sind die Schulden größer, manche konnten es ein bisschen reduzieren, aber die Rekordernte hat jetzt nicht sozusagen alles wieder gutgemacht.

von Billerbeck: Nun kann man in Pakistan doch wählen, man könnte doch auch andere Politiker wählen, die da diese Bedingungen ändern.

Hansen: Ja, das ist die Theorie, glaube ich. In einem feudalen System hat man nicht unbedingt die freie Wahl, man steht ja in einer Schuld, man kennt es nicht anders und so weiter. Ich habe mit einem Bauern gesprochen, den habe ich gefragt, wen wählst du? Und er sagte, natürlich meinen Großgrundbesitzer. Und dann fragte ich, ja, wieso? Und er: Ja, wen soll ich den sonst wählen? Also für ihn war es völlig unvorstellbar, jemand anders zu wählen. Bei diesem Großgrundbesitzer ist er verschuldet, der Großgrundbesitzer hat ihm nicht geholfen, trotzdem – ich meine, er bekommt immerhin Kredit von dem, das ist schon mal besser als nichts, aber es steckt sozusagen im Kopf, in der Kultur drin, dass man diesen Großgrundbesitzer dann auch wählt.

von Billerbeck: Das heißt, er wählt den, verschuldet sich immer weiter bei ihm und die Abhängigkeit wird eigentlich immer größer?

Hansen: Ja, so ist es. Also man muss sagen, es ist eine ganz verrückte Struktur. Man hat zum einen seine feudale Grundstruktur, dann hat man darüber eine demokratische Fassade, und das Ganze hat dann auch noch andere Elemente wie Globalisierung, also zum Beispiel, dass viele Leute nur überleben können, indem ein Familienmitglied in die Golfstaaten geht, dort arbeitet, von dort Geld überweist. Genauso auch die Bauern, die überwiegend Weizen anbauen, die bauen auch einen Teil an jetzt in Baumwolle. Mit Baumwolle sind sie vom Weltmarkt abhängig, gleichzeitig ermöglicht ihnen die Baumwolle aber quasi ein Geldeinkommen, also einen Cash zu generieren, sodass sie letztlich ein Stück weit die Abhängigkeit vom Landlord reduzieren können, sofern der Weltmarktpreis gut ist. Wenn der Weltmarktpreis abstürzt, ist das auch eine Sackgasse. Also diese drei verschiedenen Ebenen haben wir, und dann kommt natürlich noch diese ganzen politische Unsicherheit oder sagen wir mal Terror, Islamismus und diese ganzen Sachen dazu. Aber es ist nicht so eindimensional. Zum Beispiel die Entsendung von Arbeitsmigranten in die Golfstaaten schwächt das feudale System, weil dadurch haben Leute unabhängiges Einkommen, sind nicht mehr so abhängig von ihrem Großgrundbesitzer und lernen natürlich auch die Welt kennen, kommen aus ihrem Dorf, aus ihren Zusammenhängen raus und merken, dass es auch andere Möglichkeiten gibt. Also es ist sehr komplex.

von Billerbeck: Herr Hansen, Sie waren ja nicht bloß in den ländlichen Gebieten, Sie sind auch in Islamabad gewesen und haben dort auch die Debatten verfolgt, und ein Thema, was ja uns allen noch in Erinnerung ist, ist die Tötung Bin Ladens, die eine große Rolle gespielt hat, wo ein großes Misstrauen auch entstanden ist gegenüber dem pakistanischen Militär. Das müsste doch jetzt also geschwächt sein?

Hansen: Nein, das ist es ... Wollen wir mal so sagen: Es ist schon etwas in der Defensive, aber seine Macht ist in keinster Weise geschwächt. Aus unserer Sicht sind ja zwei Dinge passiert: Einmal hat Bin Laden sozusagen das Militär vorgeführt, indem er in dieser Garnisonsstadt Abbottabad mehrere Jahre unbemerkt lebte – oder wenn er nicht unbemerkt dort lebte, dann hat ihn jemand gedeckt, und das kommt auch nicht gut. Und zum anderen haben die amerikanischen Spezialkräfte dort Bin Laden getötet, ohne bemerkt worden zu sein – also im Grunde zwei Schwächen, oder auf zwei Seiten sieht das Militär schlecht aus. In der pakistanischen Wahrnehmung wird eigentlich nur noch über die Verletzung der Souveränität geredet, das heißt, das Ganze hat so einen Spin, einen Dreh bekommen, der von dem eigenen Versagen ablenkt und sich quasi kritisch gegenüber den USA äußert nach dem Motto, die USA haben unser Vertrauen missbraucht und die USA nehmen uns nicht mehr für voll. Also das Ganze hat eine Wendung bekommen, ironischerweise so weit, dass die Regierung auch nicht die Chance genutzt hat, das Militär stärker unter zivile Kontrolle zu stellen, sondern die Regierung sah sich genötigt, das Militär zu verteidigen.

von Billerbeck: Und die sogenannte Zivilgesellschaft hat auch nicht kritisiert und Kritik geübt am pakistanischen Militär, das entweder Bin Laden gedeckt hat oder gar nicht bemerkt hat, dass er da Unterschlupf gefunden hat?

Hansen: Am Anfang gab es etliche kritische Töne, die sind mittlerweile sehr schwach geworden. Man muss aber sagen, dass es seitdem verschiedene Skandale oder Ereignisse gegeben hat, in denen das Militär schlecht aussah, zum einen dieser Angriff auf die Marinebasis in Karatschi, wo das Militär nicht sehr gut aussah, dann wurde ein Journalist ermordet, der über Verbindungen zwischen dem Militär und El Kaida berichtete. Und jetzt kürzlich wurde in Pakistan ein junger Mann vom Militär erschossen, also das wurde erstmals gefilmt, im Fernsehen, und da sah das Militär sehr schlecht aus. Also es gibt schon eine gewisse Debatte, aber man muss einfach sagen: Die Zivilgesellschaft in Pakistan ist sehr schwach.

von Billerbeck: … sagt Sven Hansen, Asienredakteur der "taz", gerade zurückgekommen von einer Journalistenreise nach Pakistan. Danke fürs Kommen!

Hansen: Ja, vielen Dank!


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