Leben im Menschheitszeitalter

Mehr Rechte für Natur und Tiere

Eine Herde Wildpferde weidet unweit des altmärkischen Buch bei Tangermünde im Landkreis Stendal.
In den Elbauen wurden Wildpferde angesiedelt © picture alliance / dpa / Jens Wolf
Jens Kersten im Gespräch mit Stephan Karkowsky  · 27.07.2018
Der Münchner Rechtsethiker Jens Kersten fordert die Rechte von Natur, Tieren und Landschaften in unserer Rechtsordnung stärker zu verankern. Sie könnten als Dämme gegen die Selbstzerstörung im Menschheitszeitalter wirken.
Angesichts der Entwicklungen im Menschheitszeitalter (Anthropozän) müsse die Rechtsordnung erweitert und anders ausgestaltet werden, sagte der Münchner Rechtsethiker Jens Kersten im Deutschlandfunk Kultur. "Die Frage der Rechte für Natur und Landschaft ist da genauso ein Punkt wie ökologische Formen der Daseinsvorsorge", sagte er. "Wir brauchen nicht nur Verkehrsinfrastrukturen, sondern auch ökologische Infrastrukturen, die denen prinzipiell, die wir kommerziell und für den Konsum nutzen, gleichkommen müssten – anders wird das nicht gehen."

Größere Fairness in der Zukunft

Man müsse der Natur, den Tieren und der Landschaft Rechte zusprechen. Damit könnte man eine größere Fairness erreichen und im Anthropozän Dämme gegen die Selbstzerstörung bauen.
Ausblick auf Neuwerk: Die Landschaft auf Neuwerk ist ideal für Möwen. 
Auch Landschaften sollten Rechte bekommen, fordert der Münchner Jura-Professor Jens Kersten. © Deutschlandradio / Elke Vieth
Diese Rechte könnten dann entweder Nichtregierungsorganisationen zugewiesen oder an große Anwaltskanzleien übertragen werden, die in Einzelfallgestaltungen diese Rechte effektiv durchsetzen könnten. Das würde dann auch ökonomisch interessant, sagte Kersten. Dabei gehe es dann auch auf der lokalen Ebene um Stadtgestaltung und Straßenbau.

Mittelschicht in der Verantwortung

Bei der Debatte um das Anthropozän, der sich diese Woche eine Reihe von Beiträgen im Deutschlandfunk Kultur widmete, gehe es um die Frage, ob sein Beginn mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert terminiert werde oder erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der großen Beschleunigung, sagte der Jura-Professor. Es werde zwar gesagt, dass die ganze Menschheit zu einem geologischen Faktor geworden sei, aber eigentlich sei es vor allem die Mittelschicht der westlichen Industrieländer seit 1945 gewesen. "Das sind letztlich wir", sagte Kersten. "Unsere Generation, unsere Eltern- und Großelterngeneration in der westlichen Welt."

Das Interview im Wortlaut:
Stephan Karkowsky: Eine ganze Woche lang haben wir uns nun schon Gedanken gemacht hier im "Studio 9" am Morgen über ein wichtiges wissenschaftliches Konzept mit einem leider sehr sperrigen Namen: das Anthropozän. Dieser Begriff bezeichnet das geologische Erdzeitalter des Menschen ab Beginn der Industrialisierung, die die Erde für alle Zukunft spür- und messbar verändert hat.
Denken Sie an die globale Erwärmung, die giftige Sedimentschicht aus Plastik, Atommüll und fossiler Verbrennung, aber auch an das Artensterben und natürlich auch das Hinzufügen neuer, gentechnisch veränderter Schöpfungen. Zum Abschluss unserer Sommerreihe über das Anthropozän möchte ich über unsere Verantwortung für dieses Schlamassel diskutieren mit einem Rechtsethiker, und zwar mit dem Münchener Professor für Öffentliches Recht, Jens Kersten. Guten Morgen, Herr Kersten!
Jens Kersten: Schönen guten Morgen!
Karkowsky: Sie haben sich über das Klonen von Menschen habilitiert. Ist denn für Sie das In-Umlauf-Bringen gentechnisch veränderter Pflanzen und Tiere ähnlich problematisch?
Kersten: Nein, das würde ich jetzt nicht so sagen, denn ich glaube, wir müssen gerade im Hinblick auf die Veränderung und die Gestaltung von Lebewesen sehr viel offener sein, wenn wir die Zukunft meistern wollen. Es ist ja gerade auch Zeichen des Anthropozän, dass wir in der Lage sind, ganz neue Lebensformen zu schaffen, und darauf werden wir eines Tages wahrscheinlich auch angewiesen sein, um gerade mit Blick auf Schädlinge, gerade mit Blick auf Dürreperioden eben gerade auch Pflanzen zu schaffen, die unsere Ernährung sicherstellen können.
Illustration einer Schere, die ein DNA Molekül modifiziert
Mit der Genschere CRISPR kann das Erbgut in kleinsten Schritten gezielt verändert werden. Das jüngste Urteil des EuGH sieht das kritisch. © imago / Keith Chambers
Karkowsky: Am Mittwoch kam das Urteil zur Genschere und das hat die "Süddeutsche Zeitung" kommentiert mit den Worten, der EuGH hätte keinerlei Fakten vorgetragen, die ein Risiko belegen. Bisher gäbe es solche Beweise weder für die alte noch für die neue Gentechnik. Die Richter hätten sich also auf ein Bauchgefühl verlassen, statt auf Fachkompetenz. Sehen Sie das auch so, die Richter haben verantwortungslos gehandelt?
Kersten: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass ja gerade in diesem Bereich die Frage, die wir zu beantworten haben, Fragen sind, die in dem Bereich des Risikos fallen. Ein Begriff, den ja Ulrich Beck dann auf den Begriff der Risikogesellschaft gebracht hat. Und hier gilt es eben klar zu unterscheiden zwischen Gefahren, bei denen ich ganz klar sehe, dass sie zu Schäden führen und bei Risikoentscheidungen, die darauf angelegt sind, dass eigentlich ganz bestimmte Schäden zunächst einmal nicht eintreten, aber – also dass das nicht absehbar ist –, aber dass sie eintreten können.
Das heißt mit anderen Worten, Risikoverhalten ist nie risikolos, und vor dem Hintergrund ist eigentlich die Verortung des Risikoproblems zunächst einmal – jedenfalls in den westlichen Verfassungsordnungen und im Europarecht – mit dem Freiheitsproblem zu lösen. Das heißt, wir haben eine Vermutung für die Freiheit, und von daher ist das nicht verantwortungslos.

Juristische Begleitung

Karkowsky: Wenn die Menschen natürlich immer vom Bauchgefühl her entschieden hätten, weil sie denken, da könnte ein Risiko dahinterstecken, hätten wir nie Fortschritt gehabt. Also anders als in der Gentechnik sind ja die Risiken der Industrialisierung heute dokumentiert, aber damals – denken Sie an die Erfindung des Dieselmotors – da konnte Rudolf Diesel die verheerenden Folgen nicht ahnen. Wäre es besser gewesen, ein Gericht hätte den Verbrennungsmotor damals verboten, obwohl die Risiken noch nicht bekannt waren?
Kersten: Ja, ich glaube, dass diese Fragen des rechtlichen Fortschritts jetzt aus juristischer Perspektive nie regelbar in dem Sinne sind, sondern wir müssen das aus der juristischen und rechtlichen Perspektive eher begleiten. Ich glaube aber, dass für die Frage der Verantwortung, über die wir hier sprechen, auch gerade im Kontext des Anthropozän, es ja immer so ein bisschen darauf ankommt, wie lange man eben das Anthropozän vorverlagert. Also, ist das, wie Sie ja auch angedeutet haben, das vertreten ja auch viele, seit der Industrialisierung oder beginnt eigentlich das Anthropozän eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also mit dieser großen Beschleunigung. Und das verbindet sich dann wieder mit einem ganz anderen Problem, nämlich der Frage der Verantwortung.
Zwar sagt das Anthropozän, dass die ganze Menschheit prinzipiell zu einem geologischen Faktor geworden ist, aber wenn wir uns anschauen, welche Probleme ausgelöst wurden und durch wen, dann ist das nicht die ganze Menschheit, sondern dann ist das letztlich die Mittelschicht der westlichen Industrienationen seit 1945 gewesen. Und das sind letztlich wir. Wir können eigentlich, jetzt gerade im Vergleich zu der Erfindung oder Entdeckung des Verbrennungsmotors, sehr viel genauer die Verantwortung festlegen, wer dafür verantwortlich ist – und das sind letztlich meine Generation oder unsere Generation und unsere Eltern- und Großelterngenerationen in der westlichen Welt.
Autoverkehr auf der A40 in Essen.
Gerade beim Autoverkehr stehen die Interessen der Natur häufig zurück © imago / Gottfried Czepluch
Karkowsky: Es geht ja bei der Verantwortung für die Zukunft immer auch um die Aushandlung von Interessen, einerseits das Wohlstandsinteresse der Gegenwart, Sie nennen das der Mittelschicht, also mehr Fabriken, Autos, Monokulturen, industrielle Landwirtschaft. Andererseits die Generationengerechtigkeit, zukünftige Generationen sollen nicht unter den Folgen unseres Handelns leiden. Warum fällt es uns so viel schwerer, die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen?
Kersten: Ich glaube, das hat so ein bisschen damit zu tun, dass wir in dieser ganzen Aushandlung von Interessen eigentlich uns privilegieren. Also, wenn wir uns anschauen, wir tun das heute ja mit dem Nachhaltigkeitsprinzip und gegen das Nachhaltigkeitsprinzip ist ja erstmal gar nichts zu sagen. Da sollen ja die sozialen, die ökologischen und die ökonomischen Interessen in einen Ausgleich gebracht werden.
Wenn man jetzt aber mal schaut, wer hat in diesen Interessenaushandlungen im Zeichen der Nachhaltigkeit die Macht, auch gerade aus juristischer Perspektive, dann kann man ja sagen, mit den sozialen Interessen sind das wir, die Bürgerinnen und Bürger, die wir Rechte, Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte haben. Und mit den ökonomischen Interessen ist das die Industrie und die hat über Aktiengesellschaften, GmbHs sind das ja auch Subjekte, die ihre Rechte einklagen können und geltend machen können in dieser Interessenaushandlung. Nur wer keine Rechte hat, das ist natürlich die Natur. Und wenn wir uns anschauen, begreifen wir praktisch die Natur, wenn wir in den Artikel 20 des Grundgesetzes schauen, wo das Umweltstaatsprinzip geregelt ist als etwas, vor was wir Angst haben.
Das soll gar keine Rechte sein, wir wollen das schützen, aber hier könnte man ja diese Interessenaushandlung jedenfalls ein bisschen fairer gestalten, indem man sich überlegt, ob man nicht doch der Natur Rechte zusprechen muss, den Tieren oder Landschaften. Das wird stark kritisiert, aber auf der anderen Seite glaube ich, mit den Rechten der Natur würde man nicht nur eine größere Fairness hinkriegen, sondern man würde eben auch im Anthropozän so etwas bauen wie Dämme gegen die Selbstzerstörung.

Anwälte könnten Rechte einklagen

Karkowsky: Dann bräuchte man natürlich auch einen Generalstaatsanwalt und natürlich ein Gericht, das stellvertretend uns anklagt, im Namen der Natur.
Kersten: Ja, also ich glaube, man muss das gar nicht hoch hängen. Man kann das ja verteilen über die Frage die Prozesslandschaft. Jedenfalls Rechte von Natur, Tieren und Landschaften können Sie prinzipiell entweder Nichtregierungsorganisationen zuweisen, aber Sie können das – und dann wird das auch ökonomisch interessant – zu Beispiel großen Anwaltskanzleien übertragen, die solche Interessen dann auch prinzipiell in einzelnen Fallgestaltungen effektiv durchsetzen könnten. Und da geht es dann auch zum Beispiel um einfache Fragen wie Stadtgestaltung und Straßenbau. Also gar nicht die globale, sondern die lokale Perspektive, auf der das möglich ist.
Karkowsky: Dann wagen wir zum Schluss unserer Serie einen kurzen Ausblick in Zukunft. Niemand will natürlich zurück in die Steinzeit. Wie bewerten Sie denn die zahlreichen Versuche der Politik, das Anthropozän in den Griff zu kriegen mit dem Emissionshandel, mit Endlagergesetzten und mit Juristen, die nach Bauchgefühl entscheiden und sich dann auch noch dafür beschimpfen lassen müssen.
Die Hände eines Mannes im Anzug halten eine kleine Weltkugel.
Die Bewahrung der Erde benötigt auch ökologische Infrastrukturen, sagt der Rechtsethiker Jens Kersten © imago / Westend61
Kersten: Ja, ich bin da eigentlich Optimist. Ich denke, dass wir das auch wirklich schaffen. Ich glaube aber, dass wir aber unsere Rechtsordnung ganz entsprechend weiter ausbauen und ausgestalten müssen. Das heißt, die Frage der Rechte für Natur und Landschaften ist da genauso ein Punkt, wie die Schaffung von ökologischen Formen der Daseinsvorsorge und der Sicherung eben von Infrastrukturen auch ökologischer Art. Also wir brauchen nicht nur Verkehrsinfrastrukturen, sondern auch ökologische Infrastrukturen, die denen prinzipiell, die wir kommerziell nutzen und für den Konsum nutzen, gleichkommen müssten oder in die eingebaut werden. Anders wird das nicht gehen.
Karkowsky: Zum Abschluss unserer Sommerreihe, aber nicht zum Abschluss der Debatte über das Thema, zum Anthropozän sprachen wir im Deutschlandfunk Kultur mit dem Rechtsethiker Jens Kersten von der Universität München. Herr Kersten, besten Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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