Anthropozän und Biodiversität

Ein Massensterben, das der Mensch zu verantworten hat

Illegal abgeholzte Bäume im Amazonas-Regenwald in Brasilien; aus zwei Baustämmen wurde ein Kreuz gebaut - im Hintergrund zu sehen
Die Eingriffe des Menschen in die Beschaffenheit der Erde sind so massiv, dass Geologen von einem Zeitalter der Menschenheit sprechen. © imago/Westend61
Jürgen Renn im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 23.07.2018
Mit dem Klimawandel haben die Menschen massiv in die Erdexistenz eingegriffen. Um dieses Menschenzeitalter zu bezeichnen, wird der Begriff "Anthropozän" diskutiert, dem wir eine Serie widmen und heute mit dem Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn sprechen.
Mit dem Begriff "Anthropozän" bezeichnen Geologen die geologische Epoche, in der die Menschen die Beschaffenheit der Erde grundlegend verändern. Begonnen habe dieses Zeitalter der Menschheit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, sagte der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn im Deutschlandfunk Kultur zum Auftakt einer Serie von Beiträgen zu diesem Thema in dieser Woche. Das sei die Zeit, als die oberirdischen Atomtests begonnen hätten, das Bevölkerungswachstum stark zunahm, aber auch der Verbrauch fossiler Brennstoffe.

Neue Perspektive

"Wir reden hier von Ausmaßen, die die Erde als ganzes betreffen", sagte der Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte zu der Frage, ob der Begriff "Anthropozän" nicht eher eine Selbstüberschätzung des Menschen widerspiegele. "Wir reden von einer Veränderung der Biodiversität, von einem Massensterben, das seinen Vergleich in der Erdgeschichte sucht", sagte er. Das besondere an diesem Begriff sei, dass er Natur- und Geisteswissenschaften in einer Perspektive zusammenführe. Das gebe auch der menschlichen Geschichte eine neue Dimension, denn sie verwebe sich mit der Erdgeschichte.
(gem)

Das Interview im Wortlaut:
Stephan Karkowsky: Diese Woche machen wir mal ein ganz großes Fass auf, frühmorgens hier im "Studio 9" vom Deutschlandfunk Kultur. Wir wollen nämlich jeden Tag etwas Neues lernen über das Anthropozän. "Anthropozän" ist der geologische Begriff für etwas durchaus Bedrohliches: Das Zeitalter des Menschen. Wir starten diese Debatte mit einem ausgewiesenen Experten, mit dem Berliner Wissenschaftshistoriker Professor Jürgen Renn. Herr Renn, guten Morgen!
Jürgen Renn: Guten Morgen!
Karkowsky: Wie würden Sie denn Anthropozän definieren? Fangen wir damit mal an.
Renn: Das Anthropozän bezeichnet in der Tat ein neues Erdzeitalter, das wesentlich von den Eingriffen des Menschen auf allen Registern und Skalen des Erdsystems geprägt ist, also die technischen und industriellen Aktivitäten des Menschen. Und wir merken das am Klimawandel, der CO2-Gehalt der Atmosphäre, aber auch die Eingriffe in die Biosphäre. Der Mensch bewegt mehr Sediment und Boden als alle natürlichen Prozesse zusammen. Wir haben die Welt wirklich verändert, obwohl wir in der Erdgeschichte eigentlich nur einen Moment existieren, haben wir im Augenblick etwa mehr Kohlendioxid, durch die Verbrennung von Kohlenwasserstoffen mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre erzeugt, als in den letzten 800.000 Jahren gemessen worden sind. Selbst wenn wir damit jetzt aufhören würden oder kein Erdöl und Erdgas und keine Kohle mehr verbrennen würden, würde wegen der Verweildauer von Kohlendioxid noch Tausende oder Zehntausende von Jahren unsere Spuren in der Atmosphäre ablesbar. Und das Gleiche gilt für die anderen Prozesse, die ich genannt habe.
Karkowsky: Aber warum ist es sinnvoll, diese Ära als geologisches Zeitalter zu definieren, also ausgehend vom Holozän nach der letzten Eiszeit jetzt das Anthropozän?
Renn: Die Geologen haben da ganz strenge Maßstäbe, und die unterhalten sich – der Vorschlag geht ja auf Paul Crutzen aus dem Jahr 2000 zurück, und seitdem wird es unter Geologen und insbesondere unter Stratigraphen sehr ernsthaft diskutiert. Und inzwischen hat eine Arbeitsgruppe auf dem 35. Internationalen Geologischen Kongress in Kapstadt 2016 durchaus vorgeschlagen, dass das Anthropozän bereits eine geologische Realität ist, die man in Sedimenten ablesen kann. Die Diskussion ist zwar noch nicht ganz abgeschlossen, man bemüht sich unter den Geologen darum, jetzt noch so einen golden spike zu finden, einen goldenen Punkt zu finden, eine charakteristische Veränderung in den Sedimenten an bestimmten Orten, der also als globaler geologischer Referenzpunkt für das Anthropozän dienen kann. Aber die Ausmaße, in denen wir das Erdsystem verändert haben, haben doch eine geologische Skala erreicht, und darüber besteht auch weitgehend Einigkeit.
Karkowsky: Aber es gibt auch Kritiker des Begriffs, die sagen dann zum Beispiel von einem Anthropozän zu sprechen, würde die gesamte geowissenschaftliche Zeitskala verstümmeln, zumal wir ja das Ende auch noch gar nicht kennen und es durchaus sein kann, dass die selbstzerstörerische Phase des Menschen eben nur eine Phase bleibt, oder?
Renn: Das ist richtig, und es ist schon ein ungewöhnlicher geologischer Begriff, weil wir ja mitten in dieser Veränderung drin sind. Die ist noch nicht abgeschlossen, und auch die Sedimente, um die es da geht, die Spuren von Atombombentests, der Anstieg fossiler Brennstoffe, den ich bereits nannte, die neuen Materialien – Plastik – die wir in Umlauf gebracht haben. Das sind schon sehr ungewöhnliche Sedimente. Aber sie werden eben auch wie andere geologische Sedimente Zehntausende und manchmal Hunderttausende von Jahren in der Erdkruste und in den verschiedenen Erdsphären ihre Spuren hinterlassen. Deswegen ist es nicht zu weit hergeholt, hier von einem geologischen Zeitalter, das eigentlich dann erst gerade angefangen hat und noch im Umbruch ist, zu sprechen.
Karkowsky: Nur hat ja jeder Vulkanausbruch auch Spuren hinterlassen in der Erdkruste, und auch der wird nicht extra als eigenes Zeitalter definiert. Die Kritiker sagen, es zeuge von einer enormen Selbstüberschätzung des Menschen in seiner kurzen Lebensspanne, ein eigenes Zeitalter zu sehen. Die Erde, Sie wissen das natürlich, ist viereinhalb Milliarden Jahre alt, und die Chancen sind doch eher groß, dass sie den Menschen überlebt, oder nicht?
Renn: Diese Chancen bestehen in der Tat. Aber da Sie die Vulkane nennen, muss man sagen, jeder Vulkanausbruch hat globale Ausmaße, aber wir reden ja hier wirklich von Ausmaßen, die die Erde als Ganze betreffen. Wir reden von einer Veränderung der Biodiversität, von einem Massensterben, das seinen Vergleich in der Erdgeschichte sucht. Und das hat eben doch globale Auswirkungen. Wir reden hier nicht über irgendwas Lokales. Es ist in der Tat in einem sehr, sehr schnellen Zeitraum passiert. Es wird ja auch darüber diskutiert, wann das Anthropozän wirklich angefangen hat als eine geologisch nachweisbare Periode. Im Augenblick neigen die Geologen dazu, das auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zu datieren, also die Zeit, in der die Atombombentests begonnen haben, in der die große Beschleunigung, das Bevölkerungswachstum, der Verbrauchsanstieg fossiler Brennstoffe, neue Materialien und so weiter global in Umlauf geraten sind. Und das ist wirklich der Punkt. Wir reden immer über das Erdsystem als Ganzes.
Karkowsky: Haben denn die anderen Wissenschaften keine Möglichkeiten, dieses Zeitalter zu beschreiben? Muss man da auf die Geologie zurückgreifen? Die Historiker zum Beispiel könnten doch sicherlich auch sagen, das ist das Zeitalter des Menschen, Punkt.
Renn: Das ist aber das Besondere an diesem Begriff, dass er die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften und unser Verständnis des Verhältnisses von Kultur und Natur in eine Blickperspektive bringt, und dass wir hier uns auf geologische Erkenntnisse beziehen können, das gibt auch der menschlichen Geschichte eine neue Dimension, denn hier verwebt sich die menschliche Geschichte mit der Erdgeschichte. Und wir sehen plötzlich, dass wir hier als Menschen mit dem Planeten als Ganzem zu tun haben. Alles, was wir jetzt tun, wird globale und über Tausende und Zehntausende von Jahren hinweg reichende Auswirkungen haben, und deswegen gibt dieser Begriff uns zum ersten Mal die Disziplin und eben auch die Zeiten übergreifende Perspektive. Und wir werden uns ein Stück weit bewusster, dass wir das Schicksal dieses Planeten in der Hand halten.
Karkowsky: Können Sie sich vorstellen, wie eine Politik der Menschenzeit aussehen könnte, also quasi eine Agenda für das Anthropozän, oder haben wir das womöglich schon, mit all den Anstrengungen, die derzeit gemacht werden gegen den Klimawandel?
Renn: Das haben wir nicht, denn wie Sie ja wissen, auch in Deutschland sind diese Anstrengungen nicht so, dass sie uns unbedingt immer optimistisch stimmen. Ich glaube, eine Politik für das Anthropozän müsste noch viel stärker globale Dimensionen in den Blick nehmen und sich nicht ausschließlich auf nationale und aktuelle Probleme beziehen. Auch, wenn wir etwa von Themen wie der Flüchtlingskrise reden, dann ist das zwar ein aktuelles Thema, aber es hat eben auch diese globale und diese geologische Dimension, weil wenn sich die Erde erwärmt, dann wird es noch stärkere Migrationsbewegungen geben. Ich glaube, wir machen uns was vor, wenn wir all diese Phänomene nur als kurzfristige Phänomene betrachten. Der Begriff Anthropozän weist uns eben auch darauf hin, dass wir es hier mit einem Wandel, der uns alle als Menschheit betrifft, zu tun haben. Darauf müssen wir uns besser einstellen.
Karkowsky: Aber Pessimisten sagen ja nun auch gerade, die Zeit der globalen Kooperation scheint vorbei zu sein, wenn man in die USA guckt zum Beispiel. Der Traum von einer Weltregierung ausgeträumt, Menschenrechte verlieren an Bedeutung, nationale Egoismen nehmen zu, und es geht wieder in Richtung "nach mir die Sintflut" – oder wäre das zu pessimistisch?
Renn: ich sehe das auch ein Stück weit pessimistisch. Aber da sehe ich auch gerade die Chance, die in dem Anthropozän-Begriff liegt, denn der Begriff ist ja vielfältig wissenschaftlich verankert, und da hilft die Geologie in der Tat oder kann ein Stück weit helfen, uns klar zu machen, dass das hier keine Meinungsfrage ist, sondern dass wir hier Eingriffe vornehmen vor einem Hintergrund, den wir noch gar nicht genau verstanden haben, und dass eben deswegen die Notwendigkeit besteht, unsere Eingriffe sorgfältiger zu überlegen und nicht einfach sozusagen in Konkurrenzkämpfen, im industriellen Wettrennen die Erde immer weiter zu verändern und damit die Chancen zu verpassen, die wir eigentlich nutzen müssten, um den Planeten sozusagen in eine nachhaltige Entwicklungslinie zu überführen. Und das kann ja nur eine globale Aufgabe sein.
Karkowsky: Und wir wollen darüber heute einen Dialog führen. Wir fangen damit an und werden diese Woche jeden Tag diskutieren über das Anthropozän. Den Auftakt unserer Wochenserie gab im "Studio 9" von Deutschlandfunk Kultur der Berliner Wissenschaftshistoriker Professor Jürgen Renn. Herr Renn, Danke für das Gespräch!
Renn: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Debatte über ein neues Erdzeitalter: Leben im Anthropozän – eine Sommerreihe im Deutschlandfunk Kultur

Der Mensch hat so stark in die ihn umgebende Natur eingegriffen, dass viele Wissenschaftler heute von einem neuen Erdzeitalter sprechen, dem Anthropozän. "Was heute passiert", so Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber, "ähnelt dem Asteroideneinschlag an der Kreide-Paläogen-Grenze". Er spricht von einem "kollektiven Selbstmordversuch" angesichts des Tempos, mit dem der Planet übervölkert und übernutzt werde.

Der Mensch ist im Anthropozän mit Phänomenen konfrontiert, die ihm völlig neu sind. Daraus ergeben sich grundlegende Fragen: Können wir mit unserem im Holozän erworbenen intellektuellen Fähigkeiten das Anthropozän verstehen? Und können wir auf die damit verbundenen Herausforderungen auch wirksam reagieren?

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