Lawrence Ferlinghetti: "Little Boy"

Redefluss eines hundertjährigen Beatnik

06:40 Minuten
Ein schmales Haus, an dessen Marquise "Books" steht
Lawrence Ferlinghetti gründete den Verlag City Lights, der Jack Kerouacs und Allen Ginsbergs Gedichte verlegt © Bloom17/dpa/Schöfflin Verlag
Von André Hatting · 01.04.2019
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Er ist der letzte lebende Vertreter der Beat Generation und feierte kürzlich 100. Geburtstag. Nun legt der Dichter Lawrence Ferlinghetti die Geschichte seines Lebens vor. Ein Redestrom – reißend und nicht immer mitreißend.
"Little Boy" ist der Roman des Hundertjährigen, der aus dem Zeitfenster steigt. Lawrence Ferlinghetti, einziger noch lebender Vertreter der Beat Generation um Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Neal Cassady und Co., die die Literatur und das Leben in den USA der Fünfzigerjahre aufgemischt hat, sitzt im berühmten Caffè Trieste in San Francisco und lässt "mit wildem Blick die Realität vorüberziehen um eine Fabel von Schall und Wahn entstehen zu lassen die alles besagt." Es ist eine Fabel ohne Punkt und Komma:
"bin ich irgendein Affe der unter einem verschont gebliebenen Baum hockt und auf das Ende oder den Anfang der Welt wartet in irgendeinem Café immer noch die reizende Historie des Selbst verfasst und ungebremst und brabbelnd verschiedenste persönliche Torheiten Unerheblichkeiten Obszönitäten und Obsessionen aufschreibt"

Reißender, nicht mitreißender Bewusstseinsstrom

Die ersten 24 Seiten lang schreibt der große Beatnik-Dichter Ferlinghetti noch so etwas wie eine Autobiografie. Wir erfahren eine Kindheitsgeschichte voller Verluste: der Vater stirbt, die Mutter überantwortet ihn der Tante, die wiederum einem wohlhabenden Ehepaar. Aber dann verlässt Little Boy Ferlinghetti diese Erzählperspektive, das "Ich-Ich-Ich" übernimmt und los geht’s in einem reißenden, aber leider nicht mitreißenden Bewusstseinsstrom, der vor ein paar Jahren entsprungen ist:
"Und Präsident Obama sagt wir seien verantwortlich füreinander Hahaha viel Glück mit deinen hehren Absichten in dieser Welt wo das Böse wirklich existiert und täglich blüht als veritabler gehörnter Teufel mit Mistgabel".
Lawrence Ferlinghetti bei einem Auftritt beim Poesiefestival Berlin 2004. Er steht an einem Mikro und trägt aus einem Buch vor.
Lawrence Ferlinghetti bei einem Auftritt beim Poesiefestival Berlin 2004.© imago/gezett
Er wolle den Plot des eigenen Lebens finden, schreibt Ferlinghetti, findet aber nur "es gibt keinen Plot so wie das Leben keinen hat", später ergänzt um die nüchterne Erkenntnis: "das einzige Detail des eigenen Plots dem ich bisher begegnet bin ist dass ich um Nanosekunden älter werde".

Erinnerungsinseln im Redefluss

Die wenigen Erinnerungsinseln in Ferlinghettis Redefluss über Gott und die Welt tauchen so überraschend auf wie sie nur wenige Sätze später wieder untergehen:
"Ein ferner Schrei entlegenes Singen das bis heute in mir widerhallt ich höre es doch noch ich höre Ti Jean [Jack Kerouac; Anmerkung des Autors] den Ginzy [Allen Ginsberg] immer zu einem Schwulen machen wollte während Ti Jean straight war wie nur irgendwas und hinter Frauen her bis er sie durch Alkohol ersetzte."
"So habe ich mein ganzes Leben lang geschrieben" sagt Lawrence Ferlinghetti über sein Buch. Das könnte das Problem sein. Dieses rauschhafte Erzählen der Beatniks auf Endlospapier, das literarische Name- und Plotdropping, eingebettet in Sex, Drugs and Autofahren, das war damals für den 15-jährigen Leser aus der Provinz ein Glücksversprechen auf holzfreiem Papier.
Vielleicht müsste man sich mit Keroaucs "On the road" und einer Flasche Portwein wieder einstimmen, um das Vermächtnis des mittlerweile hundertjährigen Ferlinghetti großartig finden zu können.
Man könnte aber auch eine der Weisheiten aus Little Boy beherzigen: "Baby überlass mich einfach meinem Labern".

Lawrence Ferlinghetti: "Little Boy"
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019
216 Seiten, 22 Euro

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