Landbevölkerung

Kommentar: Von wegen rückständig!

04:20 Minuten
Eine Frau trägt eine Pferdemaske. Sie steht vor einer Kuhweide.
Wer auf auf dem Land lebt, wird von manchen Städtern nicht für voll genommen, meint Juliane Stückrad. © picture alliance / Shotshop / Addictive Stock
Ein Einwurf von Juliane Stückrad · 02.05.2024
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Rückständig und mehrheitlich rechts: Großstädter blicken oft mit Vorurteilen auf die Bewohner ländlicher Regionen. Zu Unrecht, meint die Ethnologin Juliane Stückrad. Die Landbevölkerung habe eine besondere Wertschätzung verdient.
Vor vielen Jahren zog ich aus einem winzigen brandenburgischen Dorf zurück in meine Heimatstadt Eisenach. Nach dem ländlichen Alltag empfand ich die Wartburgstadt als urban und zentral. Dann begegneten mir Menschen aus Metropolen, die das Leben in Eisenach provinziell und ländlich fanden.
Es wäre mir egal, wie sie meine Stadt einstufen, wenn damit nicht eine Wertung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner einhergehen würde. Diese seien im Gegensatz zu den Großstädtern unfähig, modern zu denken und mehrheitlich rechts. Leider übersahen die so auf Eisenach Blickenden, wie reflektiert die Zivilgesellschaft mit den Problemlagen der Stadt umgeht und wie viele Menschen sich für ein gutes Leben engagieren.

Der Defizitblick der Großstädter

Diese Erfahrung hat mich für die Vorurteile sensibilisiert, denen Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Räume ausgeliefert sind. Sie müssen mit dem Defizitblick der Großstädter klarkommen. Ihr Lebensumfeld wird zu oft als Mangelraum wahrgenommen. Die romantisierende Verklärung zur Landidylle leistet da keine Abhilfe, denn sie wird den Lebenswelterfahrungen der Landbevölkerung ebenso wenig gerecht.
Die Bewohner der Zentren schauen auf ländliche Räume wie auf die Ränder ihrer Welt. Wer am Rand lebt, gehört schon nicht mehr richtig dazu. Er trägt das Risiko abzustürzen. Hinzu kommt der Rechtfertigungsdruck, der besonders auf jenen lastet, die in sogenannten strukturschwachen Gebieten – also besonders nah am Rand – wohnen. Schon die scheinbar arglose Frage, warum ein junger Mensch dortgeblieben ist, zeugt vom vorurteilsvollen Defizitblick. War er vielleicht zu doof, um den Absprung zu schaffen? Ist er persönlich so abgehängt wie die Gegend, in der er sein Leben fristet?

Der kulturelle Reichtum ländlicher Räume

Dabei haben die Bewohnerinnen und Bewohner jener ländlichen Regionen besondere Wertschätzung verdient. Sie blieben, obwohl ihre Heimat erst zum Rand erklärt und dann zum Rand gemacht wurde. Sie blieben, obwohl Bahnstrecken stillgelegt und Schulen geschlossen wurden. Sie blieben, obwohl der Lebensmittelladen weg, die Sparkasse zu und der Weg zum Arzt weit ist. Wenn sie gingen, würden wertvolle Kulturlandschaften veröden. Es gäbe noch weniger bezahlbare Wohnungen und noch mehr Verkehr in den Metropolen.

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Wer durch die Defizit-Brille auf ländliche Räume schaut, hat ein eingeschränktes Kulturverständnis und übersieht deren kulturellen Reichtum: Dorfclubs, die Kulturhäuser betreiben; Eisenbahnfreunde, die Nebenstrecken erhalten; Kirchbauvereine, in denen Christen und Nichtchristen gemeinsam Verantwortung übernehmen; Jugendliche, die vollkommen selbstständig Kirmessen organisieren. Tatsächlich liegt die Engagementquote bei Jugendlichen im ländlichen Raum höher als in den Städten.
In den vergangenen Jahren war ich häufig Gast bei Veranstaltungen, die sich mit den Problemen ländlicher Räume befassten. Sie fanden fast ausschließlich in Großstädten statt. Es ist an der Zeit, die Blickrichtung umzukehren. Im Kulturhaus einer Kleinstadt sollten Tagungen zum Wohnungsmangel in Metropolen durchgeführt werden. Vielleicht ergäben sich dort unerwartete Lösungsansätze. Die Kirmesjugend eines südthüringischen Dorfes könnte in einem Berliner Jugendhilfezentrum erklären, wie man selbstverantwortlich ein Fest auf die Beine stellt.

Großstädter sollten Vorurteile ablegen

Um den positiven Einfluss ländlicher Räume auf die Metropolen zu stärken, ist der Ausbau des ÖPNV auf dem Land dringend notwendig. Die Potenziale ländlicher Lebenswelterfahrungen für urbane Räume sollten besser ausgeschöpft werden. Dazu müssen die Großstädte aber erst einmal ihre Vorurteile über Kleinstädte und Dörfer ablegen.

Juliane Stückrad wurde 1975 in Eisenach geboren, wo sie mit ihrer Familie auch lebt. Sie studierte Ethnologie in Leipzig, wurde im Fach Volkskunde an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert und arbeitet bei der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen. In Ihrem Sachbuch „Die Unmutigen, die Mutigen. Feldforschung in der Mitte Deutschlands“ möchte sie für die Vielfalt ostdeutscher Lebenswelten sensibilisieren und reflektiert dabei ihre eigenen Transformationserfahrungen.

Porträt der Ethnologin Juliane Stückrad
© Susanne Schleyer / autorenarchiv.de
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