#76 „Wie kann man nur?“ – Corona und die Vernunftpanik
30:42 Minuten

Warum ertragen so viele Menschen es nicht, wenn für eine schlimme Situation vielleicht ausnahmsweise gar kein echter Schuldiger zu finden ist?
Der Chef-Virologe der Charité in Berlin, Christian Drosten, sagte am 12. März noch: "Diese Herausforderung hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bis jetzt nicht gegeben und darum ist nicht die Zeit für Schuldzuweisungen." Dennoch tun sich momentan viele Menschen schwer damit, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, die ihrer Meinung nach unverantwortlich handeln. Ist es nicht sogar notwendig, diejenigen zu maßregeln, die mutwillig die Gesundheit ihrer schwächeren Mitmenschen aufs Spiel setzen? Etwa indem sie weiterhin mit ihren Kindern auf öffentlichen Spielplätzen abhängen - sind diese Menschen, wie Charlotte Roche im Spotify-Podcast "Paardiologie" sagt, "Mörder"?
Vernunftpanik in der Gesellschaft?
Oder ist das "Vernunftpanik"? Ein Begriff, den der Autor Sascha Lobo in seinem "Essay über die Corona-Gesellschaft" prägt. Er beobachtet on- wie offline Menschen, die sich lauthals über andere erheben. Die eigene Vernunft werde dabei überhöht, das Verhalten der scheinbar rücksichtslosen Mitmenschen massiv abgewertet - ohne danach zu fragen, warum ein Mensch so handelt, wie er handelt. Für Sascha Lobo ein Zeichen, dass es an Gespür für die eigenen Privilegien fehle: "Im klopapiergefüllten Neun-Zimmer-Stuckaltbau lässt sich eine Ausgangssperre viel leichter ertragen als alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern in der Einzimmerwohnung", schreibt er.
"Wer jetzt von Vernunftpanik spricht, hat nichts verstanden", widerspricht der Leiter der Kulturredaktion des Südkuriers, Johannes Bruggaier. auf Lobo argumentiert er genau umgekehrt: Gerade Kassier*innen, Krankenpfleger*innen und Patient*innen würden sich über Leute ärgern, die die Zeit und das Geld haben, sich jetzt am Bodenseeufer zu sonnen und die darauf pfeifen, persönliche Bedürfnisse zurückzustellen. konfrontiert die beiden mit ihren Positionen und dabei zeigt sich, dass sie gar nicht so weit auseinander liegen. Beide kritisieren vor allem eine privilegierte und gutsituierte Sprecherposition.
Wer ist denn nun Schuld?
Schon in der Debatte um das HI-Virus in den 1990ern hat sich gezeigt, dass Menschen einen Schuldigen brauchen: Damals Homosexuelle und Drogenabhängige. Das führte zu einer enormen Stigmatisierung und Diskriminierung dieser Gruppen. Über die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen HIV und dem neuen Coronavirus sprechen wir mit taz-Redakteur Martin Reichert. In seinem Buch berichtet er davon, wie die Krankheit ihren Weg ins Bewusstsein der Bundesrepublik fand.