L.A. Short Cuts

Freeway

Luftaufnahme einer Freeway-Kreuzung in Los Angeles, aufgenommen im Januar 1997
Luftaufnahme einer Freeway-Kreuzung in Los Angeles © picture-alliance / dpa / Chad Ehlers
Von Gerhard Falkner · 27.11.2014
Die Rückeroberung des Public Space, für den auch Leute wie Richard Sennett kämpfen, hat in Los Angeles Fortschritte gemacht. Diesen Öffentlichen Raum beobachtet Lyriker Gerhard Falkner im "Originalton". Falkner hat gerade einige Monate in der Stadt der Engel verbracht und präsentiert diese Woche seine Beobachtungen.
Keine Stadt der Welt haben die Highways und die Freeways so im Griff wie Los Angeles. Sie sind die Reben und Ranken, an denen die zahllosen Trauben der Städte, Stadtteile und Suburbs hängen, die in dieser Megametropole zusammengewachsen sind.
Man findet kaum Worte für die monströsen Wicklungen und Verschlingungen, für die kolossalen Därme, die den Verkehr verdauen, für die Peristaltik der Straßenführung, den ondulierten Asphalt und das lautlose Panorama dieser unaufhörlichen Stadt. Es ist ein Power Plant, ein Neuro-Kraftwerk, verkabelt durch die Freeways, sensationell unspektakulär in ihrem Funktionieren, nur verletzbar durch den Stromausfall und die Wasserknappheit. Vollkommen einleuchtend hat Bret Easton Ellis den Satz: "People are afraid to merge in a freeway" zum Schlüsselsatz seines kleinen Romans "Weniger als Null" gemacht. Das Einfädeln und Spur wechseln ordnet den Lebensablauf.
Der Verkehr rauscht wie die geschmeidige Musik einer nie eintretenden, aber ununterbrochen erwarteten Katastrophe, die Verkehrsinstrumente schimmern und die Karosserien kochen in der Sonne, während in ihrem Innern die Molltöne der Aircondition die Verkehrsteilnehmer bis zum Frösteln herunterkühlen. Es ist die unerhörte Dialektik, die diese Stadt unfassbar macht, alles, was sich darüber sagen lässt, ist richtig und falsch zugleich.
Alles ist, wie die Blutsverwandtschaft von Lust und Schmerz, gegensätzlich verschmolzen. Nur wenn es gelänge, das eigene Leben mit seinem Ende zu beginnen und unter Zuwachs seiner Sinne jünger zu werden mit der Aussicht in irgendeinen Schoß zurückzukehren gäbe es vielleicht eine neue Perspektive, da der Blick zunehmend seiner Gewöhnung beraubt würde.
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Die Originaltöne dieser Woche stammen von dem Lyriker Gerhard Falkner. Es sind Schnipsel aus der Werkstatt des Autoren, Texte und Gedankensplitter, die Auskunft geben über das, was ihn gerade interessiert. Produktion: Sebastian Schwesinger..

Gerhard Falkner (*1951 Schwabach) lebt als Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist und Übersetzer in Berlin und Bayern. Er gehört zu den bedeutenden Dichtern der Gegenwart. Nach einem Stipendium am Literarischen Colloquium Berlin legte Falkner mit dem Band "Berlin – Eisenherzbriefe" (1986) einen der zentralen postmodernen Mischtexte vor. 1997 erschien mit "Voice an Void. The poetry of Gerhard Falkner" von Neil Donahue die erste Monographie.
Für die Novelle "Bruno" erhielt Falkner 2008 den Kranichsteiner Literaturpreis und den August Graf von Platen-Preis. 2010 wurde er mit dem Preis der Stadt Nürnberg ausgezeichnet.
In ihrer Begründung für den Peter-Huchel-Preis 2009, den er für seinen Gedichtband "Hölderlin Reparatur" würdigte die Jury Falkners "Möglichkeiten sublimen Sprechens in einer Zeit beschädigter Sprachwelten". Seine "Pergamon-Poems" wurden erst kürzlich im Pergamon Museum in Berlin gezeigt und von Mitgliedern der Schaubühne interpretiert. 2013 war er der erste Fellow für Literatur an der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2014 verbrachte er mehrere Monate in der Villa Aurora in Los Angeles. Soeben erschien sein neuester Gedichtband: "Ignatien" (mit Bildern des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer).

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