L.A. Short Cuts

Zahllose Menschen, die herumlaufen

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Öffentlicher Raum - der Endpunkt der legendären Route 66 auf dem Santa Monica Pier. © picture alliance / dpa / Klaus Nowottnick
Von Gerhard Falkner · 26.11.2014
Die Rückeroberung des Public Space, für den auch Leute wie Richard Sennett kämpfen haben, habe in Los Angeles Fortschritte gemacht. Diesen Öffentlichen Raum beobachtet Lyriker Gerhard Falkner im "Originalton". Falkner hat gerade einige Monate in der Stadt der Engel verbracht und präsentiert diese Woche seine Beobachtungen.
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In der Main Street in Santa Monica, etwa auf der Höhe, wo die Ocean Park kreuzt oder drüben in San Feliz gibt es Viertel, wo die Leute nicht dick sind und gut aussehen. Es gibt dort nicht nur kleine Cafés im Berliner Stil und Schlangen vor Bars oder Bio-Läden, sondern auch Fahrradwege, was man in L.A. fast als das drohende Ende eines falschen Anfangs betrachten muss. Die Fahrradfahrer selbst sehen allerdings ebenfalls aus wie vom Hersteller, knallbunt und mit Kunststoff überzogen.
Es gibt zahllose Menschen, die herumlaufen, also nicht spazieren gehen oder flanieren oder einkaufen, sondern herumlaufen. Viele von ihnen sind jung, farbig, leger, tätowiert und tragen an Persol erinnernde, allerdings amerikanische Sonnenbrillen, wie Sutro oder Ray-Ban.
Es ist dort fast ausgeschlossen, ein Café zu finden, wo nicht auf dem Aushängeschild "organic coffee" angepriesen wird, was nicht heißen soll, dass ich danach suche, sondern es nur als Beleg dafür anführe, dass sich Bewusstsein in den USA, wenn denn, endemisch ereignet. Man hört überall Musik, aber nirgends laut, und auch in anderen Rubriken überwiegt das Gesittete. Ebenso wie die Fahrräder sind auch die Kinderwagen auf den Bürgersteigen im Vormarsch. Allerdings noch nicht wie in Berlin als strategische Räumfahrzeuge zur Weichzielbekämpfung. Vieles erinnert an Kreuzberg.
Die Rückeroberung des Public Space, für den auch Leute wie Richard Sennett gekämpft haben, hat unvorstellbare Fortschritte gemacht. Als ich das erste Mal in L.A. war, war er, der Öffentliche Raum, praktisch nicht mehr vorhanden.
Die Fortleitung des Aktionspotentials im Neuron entlang der Neuriten erreicht nicht, dass ich beim Anlegen meines doppelläufigen Augenstutzens auf die Zwischenstadt mit ihren mannigfaltigen Zielgruppen auch nur mit der Wimper zucke.

Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Die Originaltöne dieser Woche stammen von dem Lyriker Gerhard Falkner. Es sind Schnipsel aus der Werkstatt des Autors, Texte und Gedankensplitter, die Auskunft geben über das, was ihn gerade interessiert. Produktion: Sebastian Schwesinger.

Gerhard Falkner (*1951 Schwabach) lebt als Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist und Übersetzer in Berlin und Bayern. Er gehört zu den bedeutenden Dichtern der Gegenwart. Nach einem Stipendium am Literarischen Colloquium Berlin legte Falkner mit dem Band "Berlin – Eisenherzbriefe" (1986) einen der zentralen postmodernen Mischtexte vor. 1997 erschien mit "Voice an Void. The poetry of Gerhard Falkner" von Neil Donahue die erste Monographie.
Für die Novelle "Bruno" erhielt Falkner 2008 den Kranichsteiner Literaturpreis und den August Graf von Platen-Preis. 2010 wurde er mit dem Preis der Stadt Nürnberg ausgezeichnet.
In ihrer Begründung für den Peter-Huchel-Preis 2009, den er für seinen Gedichtband "Hölderlin Reparatur" würdigte die Jury Falkners "Möglichkeiten sublimen Sprechens in einer Zeit beschädigter Sprachwelten". Seine "Pergamon-Poems" wurden erst kürzlich im Pergamon Museum in Berlin gezeigt und von Mitgliedern der Schaubühne interpretiert. 2013 war er der erste Fellow für Literatur an der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2014 verbrachte er mehrere Monate in der Villa Aurora in Los Angeles. Soeben erschien sein neuester Gedichtband: "Ignatien" (mit Bildern des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer).

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