Kunstzentrum

Angesagt und bodenständig

Besucher des traditionellen Frühjahrsrundgangs auf dem Areal der ehemaligen Baumwollspinnerei in Leipzig.
Das weitläufige Areal der ehemaligen Baumwollspinnerei bietet unerschöpfliche Möglichkeiten. © picture alliance / ZB / Hendrik Schmidt
Von Elisabeth Nehring · 03.05.2014
Die Kunstausstellungen auf dem "Spinnerei"-Areal locken neben Leipziger Familien auch Szene-Publikum und Sammler an. Bis heute gelingt die Gratwanderung zwischen produktivem Künstlerstandort und Besucherhype.
Die weite Halle der Galerie Eigen+Art entführt in eine andere Wirklichkeit. Auf alten Fotografien sehen wir weite, blühende Landschaften mit schneebedeckten Gipfeln, eine Schar Kinder im Heu. Doch naturalistisch wirken diese Fotos nicht: Überall schleichen sich giftiges Gelb und Rosa, krankes Lila oder Grün in die Bilder – Wirkungsverstärker und Störfaktor zugleich.
Der Leipziger Maler Jörg Herold hat sich als "Dokumentararchäologe", wie er sich selbst nennt, auf die Suche "nach dem Himmelreich der Schlesier" gemacht, hat alte Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Internet, die das Leben in Schlesien im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigen, auf verschiedenste Weise mit Drucktechniken, Acrylfarbe und Computer bearbeitet.
"Jedes Bild ist verfremdet, das ist grundsätzlich so, dass ich das für mich aneigne. Der Panzer da drüben, das ist der traurige Panzer, also da ist der Mund so verformt und die Augen so rausgeholt. Wenn man hinguckt, entsteht so ein Gesicht unter den Luken der Kanone. Wenn man möchte, ist jedes Foto mit einer kleinen Geschichte besetzt. Mit Schlesien verbindet man so eine Art verlorenes Paradies."
Die Spinnerei, selbst so ein Paradies, allerdings ein ganz gegenwärtiges, wartet zum jährlichen "Großen Frühjahrsrundgang" mit einer Vielzahl von Ausstellungen auf: Edgar Leciejewski verwirrt mit Porträtfotografien, in denen der obere Teil der Gesichter zerkratzt und übermalt ist.
Eins der angesagtesten Kunstzentren Europas
Zeitgenössische poetische Japan-Impressionen von Arthur Zalewski locken genauso wie eine Werkschau der Neuen Slowenischen Kunst und Steve Viezens präsentiert in der Galerie Kleindienst seine faszinierend-unheimliche Szenerien, die realistische Malerei mit surrealen Elementen verbinden, wie zum Beispiel das Gemälde eines kleinen Affen mit Pinsel und Staffelei, der verloren vor einem Renaissance-Hintergrund samt wehendem rotem Vorhang sitzt und ein Bild nach dem anderen produziert.
Steve Viezens: "Das ist mit meinem persönlich-beruflichen Alltag verbunden, die Beobachtung meiner Seite und mein persönliches Empfinden in Bezug auf den Kunstmarkt. Oder der Umgang mit Kunst momentan, vor allem auch, ja, von der medialen Seite, dass man bei Kunst immer die Preise liest, zum Beispiel. Dass gute Kunst fast immer an der Summe ausgemacht wird."
Natürlich ist auch die Spinnerei nicht ausgenommen von den Gesetzen des Kunstmarktes. Im Gegenteil: Seit Jahren ist sie einer der angesagtesten Kunstzentren Europas. Einiges ist hier allerdings immer noch anders als an anderen gehypten Orten. Zum Beispiel hat sie die vom britischen Guardian erteilte Auszeichnung "hottest place on earth" überlebt.
Wo andere Städte oder Stadtteile erst von Hipstern und anschließend von Investoren überrannt werden und trotz aller Widerstände irgendwann ihren Charakter verlieren, bleibt die Spinnerei auf angenehm bodenständige Weise das, was sie schon immer war: ein Ort der Arbeit. Denn hier gibt es nicht nur Galerien, sondern eben auch Künstlerwerkstätten und Läden, in denen edle Fahrräder oder kluge Konzeptmode gefertigt werden.
Auf den Rundgängen mischen sich wohlhabende Sammler und Kunstszene-Schnösel unter Leipziger Familien, die mit Kind, Kinderwagen und Hunden lässig über das hundert Jahre alte Holperpflaster und durch die Galerien schlendern. Und alle treffen sich vor denselben Bratwurstständen.
Das "Kunstwunder" der Messestadt
Bertram Schultze: "Manchmal kommen sogar die Hubschrauber, letztes Mal hatten wir einen Hubschrauber, der musste im Nachbarareal landen, weil bei uns alles zu voll war. Wir haben ein paar schwarze Limousinen da, die als VIP-Shuttle dienen. Und das Tolle ist, das wir trotz des zunehmenden öffentlichen Interesses immer noch ein Produktionsstandort geblieben sind. Also die Künstler finden hier noch immer die Ruhe zum arbeiten, das finde ich besonders wichtig und uns gelingt auch seit Jahren die Gradwanderung zwischen Heimatbildung für die Künstler und somit auch eine starke Identität und gleichzeitig Besucherstandort zu sein und das finde ich besonders wichtig."
Bertram Schultze ist als Geschäftsführer und Gründungsmitglied mitverantwortlich für diese besondere Mischung aus Kunst und Handwerk, die die Spinnerei von heute bevölkert. Beim Rundgang durch die mitunter riesigen, weitgehend im Rohzustand belassen Hallen und Werkstatträume kann man sich nicht nur von dem Niveau und der Seriosität überzeugen, mit der hier gearbeitet wird, sondern auch von den noch unausgeschöpften Möglichkeiten, die das weitläufige Areal bietet.
Gerd Harry Lybke, Leipziger Galerist der ersten Stunde, bringt das "Kunstwunder" der Messestadt, das Verhältnis von Künstlern, Stadt und Spinnerei auf den Punkt.
"Du kannst hier unendlich viele gute Plätze finden, um zu arbeiten, du hast Platz. Hier in Leipzig, das ist eine Stadt, die dich auch noch will."
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