Kunst in Zeiten des Mauerfalls

Von Jochen Stöckmann |
Für die Zeit bis 1945 und dann für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1968 hat die Neue Nationalgalerie in Berlin ihre Bestände der Moderne in großen Ausstellungen präsentiert. Jetzt folgt der letzte Teil der Trilogie: Mehr als 100 Werke aus den Jahren 1968 bis 2000 haben die Kuratoren ausgewählt.
"Es wurde vor allem die Breite der Bestände der Nationalgalerie deutlich, die sich eben nicht an einem festen Kanon gezeigt hat, sondern der Kanon ist hier wunderbar unterbrochen worden."

Um das Aufbrechen kunsthistorisch fest gefügter Fronten kann es Udo Kittelmann nicht gehen, denn unter den Experten ist längst alles im Fluss. Aber die schlichte chronologische Ordnung will der Direktor der Nationalgalerie mit dieser dritten Präsentation aus der Sammlung durchbrechen, zugunsten eines thematisch fokussierten Blicks des Publikums auf gesellschaftspolitische Facetten.

Dazu passt Katharina Sieverdings Fotoarbeit "Schlachtfeld Deutschland" über den von Terrorismusangst geprägten "Deutschen Herbst" ebenso wie der eher private "Küchenkoller" des Fotografenpaares Anna und Bernhard Blume. Dazu würde aber auch der Hinweis gehören, dass eine Boulevardpresse, die heute Rekordpreise bei Kunstauktionen bejubelt, Anfang der Achtziger noch regelrecht hetzte gegen den Ankauf von Barnett Newmans "Who’s afraid of Red, Yellow and Blue". Für drei Farbfelder, wie sie jeder Anstreicher male, dürfe Berlin keine müde Mark zahlen. Das war der Tenor der Schlagzeilen – und ein Säureattentat die Folge. In der "Ausweitung der Kampfzone" aber bleibt alles friedlich, Newmans opus magnum leuchtet wie am ersten Tag. Warum, das erklärt Joachim Jäger, Leiter der Neuen Nationalgalerie:

"Wir dachten dann am Ende, wir wollen souveräner mit dem Bild umgehen, ganz pur. Ohne diese Störung eines dokumentarischen Teils, der dann gleich wieder auf Geschichten der achtziger Jahre zurückgreift. Nein, wir wollten wirklich die Kunst und diesen strahlenden Barnett Newman pur in diesem Raum haben."

Diesem alles überstrahlenden Tempel des abstrakten Expressionismus steht noch vor dem eigentlichen Eingang das Chaos ineinander verschobener Schiefertafeln gegenüber, mit denen Joseph Beuys 1977 die "Richtkräfte einer neuen Gesellschaft" verorten wollte. Und auch das hat seinen tieferen Grund:

"Die Ausweitung der Kampfzone betrifft selbst die Institution Museum. Das kann man auch ganz wunderbar an dieser Arbeit der "Richtkräfte" erleben, die Joseph Beuys ja in diesem Foyer, hier an dieser Stelle aufgebaut hat. Und zwar ganz entschieden nicht in den Sammlungsräumen: er wollte nicht ins Museum, er wollte zu den Menschen."

Ob Beuys diese Erweiterung des Kunstbegriffs, diese Ausweitung der "Kunstzone" gelungen ist, wäre heute, nach Jahrzehnten, eine Untersuchung wert gewesen. Nach 1989 blicken die Künstler gleichermaßen kritisch auf eine Gesellschaft, die sich nach dem Ende des Kalten Kriegs mitten im Frieden militarisiert. Jenny Holzer warnt auf einem winzigen Schild "The Beginning of the War will be Secret". Wolfgang Tillmans montiert über zwei Museumswände großflächig Zeitungsausschnitte mit Fotos von Söldnern, Soldaten, Polizisten und anderen Professionals des Krieges.

"Hier in Berlin wurde anders gesammelt als in Städten wie Düsseldorf, München, Stuttgart, Frankfurt oder Hamburg. Es gibt einen sehr starken Blick auf gesellschaftspolitische Themen, auch Reibungen, Konfliktsituationen in der Kunst."

Ausgerechnet unter Andy Warhols Tarnmuster "Camouflage" steht klein und fast schon versteckt der Hinweis auf die "Sammlung Marx". Bedrohlich wirkt der Zusatz "Leihgabe aus Privatbesitz". Was, wenn der private Sammler seine Kollektion abzieht, gar ein eigenes Museum eröffnet? Hier ist Kunst – ohne das es in der Ausstellung sichtbar wird – in die Kampfzone jenes neoliberalistischen Wirtschaftssystems geraten, das Houellebecq in seinem Roman aufs Korn nahm: Einige wenige setzen ihren Willen durch, die Masse der Verlierer bleibt auf der Strecke. So, wie der mitten in seiner schäbigen Küche zusammengebrochene Mann in Jeff Walls "Insomnia". Dieser wie in Stein gemeißelten Foto-Inszenierung hat Joachim Jäger in seiner Auswahl Andreas Gurskys "Singapure Stock Exchange" gegenübergestellt. Es ist eine digital aufwendig manipulierte Fotografie, eine malerische Apotheose des quirligen Börsengeschäfts:

"Kunst erscheint als formale Ästhetisierung, als Kunstmarkt-Kunst. Gerade Koons, Gursky und Hirst, die hier nebeneinander zu sehen sind, waren die Gewinner der new economy, waren die Gewinner auch des Kunstmarktbooms."

Und eben dieser Boom hat jenen Typus des privaten Sammlers hervorgebracht, dem Udo Kittelmann als Direktor der Nationalgalerie nun das Terrain bereiten muss, im derzeit offenen Kampf um einen Erweiterungsbau und attraktive Ausstellungsmöglichkeiten:

"Wir müssen eben auch den Sammlern eine Perspektive bieten. Auf 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche allein der Neuen Nationalgalerie hat man vielleicht nicht ganz so gute Karten."
Mehr zum Thema