Geister zwischen Vergangenheit und Zukunft

Von Barbara Wiegand · 21.09.2011
Mit ihren ungewöhnlichen Fotoserien hat sich Taryn Simon in der Kunstszene einen Namen gemacht. Arbeiten von ihr hängen im Moma in New York, im Pariser Centre Pompidou oder der Londoner Tate Modern. In der Neuen Nationalgalerie in Berlin zeigt die US-Amerikanerin jetzt ihren neuesten Werkzyklus.
"Ein lebendiger Mann, für tot erklärt und andere Kapitel" – so lautet der Titel der Ausstellung - benannt nach einem Inder und seinen Brüdern, die von korrupten Beamten für tot erklärt wurden, sodass andere das Erbe an sich bringen konnten. Es ist eine von insgesamt 18 Geschichten, die Taryn Simon in der Neuen Nationalgalerie erzählt – auf ihre ganz besondere Weise.

Denn die Schau ist kein dramatisch inszeniertes Storytelling. Man fühlt sich eher an eine wissenschaftliche Dokumentation erinnert. Mit nüchternen Porträts, schlicht formulierten Hintergrundtexten, Zeitungsfotos. Die Porträts zeigen die jeweiligen Protagonisten in einer Reihe mit ihren Verwandten – alle vor denselben neutralen Hintergrund – alle ohne die Spur eines Lachens, ohne Trauer, Wut oder sonst einen prägnanten Gesichtsausdruck.

"Ich bin um die Welt gefahren, um 18 verschiedene Familiengeschichten, genauer zu dokumentieren und zu erforschen. Ich wollte herausfinden, inwieweit unser Schicksal von unserer Herkunft bestimmt ist, durch Blutsverwandtschaften oder andere Umstände. Und zu diesem Konzept gehört, dass die gerade Linie der jeweiligen Blutsverwandtschaft von den Geschehnissen durchbrochen wird.

Und die erste titelgebende Geschichte ist aber auch eine Metapher dafür, wie sehr unser aller Leben vom Tod bestimmt ist, dass wir auf eine Art alle Geister sind, die irgendwo zwischen der Vergangenheit und der Zukunft existieren. Es ist also auch eine Metapher."

Über Ländergrenzen und auch die Grenzen der Kunst hinaus hat sich Taryn Simon also auf eine systematische Spurensuche begeben - nach bisweilen so grotesken wie grausamen Schicksalen. Eine insgesamt vierjährige Forschungsreise, die sie unter anderem nach Irland führte. Dort traf sie den Iraker Lativ Yahia, der einst gezwungenermaßen zum Familienmitglied des Hussein Clans wurde - als Doppelgänger von Saddams Sohn Udai.

In Tansania war die Ausgrenzung und Verfolgung von Albinos Thema ihrer Recherche. Nicht selten stieß die 36-Jährige dabei auf Widerstände, brachte sich in Gefahr. In Brasilien etwa geriet sie zwischen die Fronten verfeindeter Clans, als sie Mitglieder zweier in Blutfehde verstrickter Familien fotografieren wollte.
Vor allem aber musste sie Geduld aufbringen. Den Menschen mit ihren schwierigen Schicksalen genug Zeit geben, um das nötige Vertrauen zu gewinnen. Etwa das der bosnischen Mutter, die ihre Söhne beim Massaker von Srebrenica verlor. Die Lücken, die dieser Genozid in die Familie gerissen hat, sind in der Ausstellung durch leere Blätter symbolisiert und durch Fotos ihrer aus Massengräbern geborgenen menschlichen Überreste

"Ja, in dieser Arbeit zeige ich, wie eine Familiengeschichte durchbrochen wurde, ja ausgelöscht wurde. Sie wurden ermordet, weil sie Bosnier waren – ihre Herkunft wurde ihnen also quasi zum Schicksal. Die Knochen, die Zähne, die hier zu sehen sind, sind die der ermordeten Familienmitglieder. Ich konnte sie fotografieren, weil sie gerade aus einem Massengrab geborgen worden waren – noch bevor sie in einem Familiengrab beigesetzt wurden. Es sind Fotos, für die ich nicht nur die Genehmigung der Behörden, sondern natürlich auch die der Familien eingeholt habe."

Eine in ihrer wissenschaftlichen Akribie beispielhafte Arbeit – zeigt sie doch, wie Simons Kunst gerade aus ihrer scheinbaren Unbeteiligtheit heraus Wirkung erzielt. Denn während man noch nach einer Regung sucht in den reglosen Mienen der Porträtierten, begreift man, dass sich gerade darin die Unfassbarkeit dieses Schicksals zeigt. An anderer Stelle sind weniger schmerzhafte Leerstellen, sondern vielmehr mögliche Dopplungen das Thema.

"In dieser Serie geht es um die Reinkarnation. Das sind Drusen aus dem Libanon die an Wiedergeburt glauben. Und ich will hier diese Doppeldeutigkeiten im System aufzeigen. Denn der junge Mann, von dem die Verwandtschaft glaubt er sei die Reinkarnation seines Großvaters, ist zugleich der Sohn und der Vater seines Vaters. Das Beispiel zeigt, wie eng die Dinge verwoben sein können, wie sich Vergangenheit und Zukunft überlagern können. Und man mag sich fragen, wo das alles hinführt, wo es endet? Wiederholt sich alles, gibt es ein System dahinter. Haben wir eine Bestimmung, oder nicht?"

So gibt es keine klaren Botschaften in der Kunst von Taryn Simon. Ja, wenn man sie fragt, warum zu diesen Menschen auf den Weg gemacht hat, warum überhaupt sie sich den Themen auf diese ihre Art widmet - dann zögert sie lange – und weiß dann doch keine Antwort.

Stattdessen stellt sie Fragen - nach der Wahrheit, die sich zwischen den zusammengetragenen Fakten verbergen mag, nach der menschlichen Existenz überhaupt. Fragen, die sie jetzt in der Neuen Nationalgalerie in 18 akribisch sortierte Kapitel verpackt hat. Diese wirken auf den ersten Blick vielleicht etwas spröde – auf den zweiten aber verbergen sich darin ganz ungewöhnliche, faszinierende Geschichten.
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