Kristina Gorcheva-Newberry: "Das Leben vor uns"

Fremde Heimat Russland

05:58 Minuten
Auf dem Cover ist eine junge Frau vor einem Haus mit Rosen und blickt in die Kamera, darüber Autorinname und Buchtitel.
© C.H. Beck Verlag

Kristina Gorcheva-Newberry

Übersetzt von Claudia Wenner

Das Leben vor unsC.H.Beck, München 2022

359 Seiten

25,00 Euro

Von Olga Hochweis  · 15.07.2022
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Kristina Gorcheva-Newberry ist in den 90er-Jahren in die USA ausgewandert. In ihrem Romandebüt schildert sie das Aufwachsen in der Sowjetunion in den 80ern. In poetischer, bildreicher Sprache erzählt sie die gegensätzliche Geschichte zweier Freundinnen.
Kristina Gorcheva-Newberry ist eine späte Roman-Debütantin. Die Absolventin der Moskauer Linguistischen Universität war einige Jahre als Russischlehrerin und Dolmetscherin beschäftigt, bevor sie Mitte der 1990er-Jahre in die USA emigrierte.
Dort begann sie, auf Englisch zu schreiben, und studierte Creative writing. Diverse Kurzgeschichten der gebürtigen Russin wurden mit Preisen ausgezeichnet.

Obstgarten als Spekulationsobjekt

In ihrem Roman-Erstling „Das Leben vor uns“ kehrt sie zurück in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend der 70er und 80er, aber auch in ein fremdes Russland des Jahres 2007. Ihre Ich-Erzählerin Anja Raneva besucht nach fast 20 Jahren in den USA erstmals wieder Familie und Freunde in Moskau und trifft dabei u.a. Lopatin.
Der Schulfreund von damals ist mittlerweile ein windiger Geschäftsmann, der alles daran setzt, die Obstgärten von Anjas Eltern und anderer Datschen-Besitzer als Spekulationsobjekte aufzukaufen.
Nicht nur der englische Originaltitel des Romans „Orchard“ (auf deutsch: Obstgarten), selbst die Namen der Figuren spielen auf die zentrale literarische Inspiration durch Anton Tschechows Theaterstück „Der Kirschgarten“ an. Auch hier geht es um Wandel, um Verlust und um das wehmütige Festhalten an Dingen, die verloren gegangen sind.

Aufwachsen im Russland der 1980er

Vor allem aber ist „Das Leben vor uns“ ein dichter Coming-of-Age-Roman. Im Zentrum steht die Freundschaft zwischen Anja und Milka, die sich in der ersten Klasse kennenlernen und bis zu Milkas Tod knapp zehn Jahre später unzertrennlich bleiben. Durch ihre Augen sehen und erleben wir die grauen Jahre der Stagnation als auch die freiere Perestroika-Zeit mit ihren großen Hoffnungen.
Wir lernen Sehnsüchte und intime Träume zweier heranwachsender Mädchen kennen, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Milka, klein und schmächtig, kommt aus einer dysfunktionalen Familie und verbringt deshalb die meiste Zeit bei der körperlich sehr viel weiter entwickelten Anja.
Deren Akademiker-Eltern und die fast blinde Großmutter, die die Leningrader Blockade überlebt hat, verkörpern gegensätzliche Haltungen gegenüber dem Land, in dem sie leben: Dankbarkeit, Sarkasmus, Wut, aber auch Selbstbetrug, stilles Leiden und Resignation.

Idylle und Drastik

Mit großer Genauigkeit und poetischer, bildreicher Sprache zeichnet Gorcheva-Newberry einen Mikrokosmos der russischen Gesellschaft unter wechselnden politischen Vorzeichen. Die stärksten Passagen des Romans vermitteln atmosphärisch genau Reaktionen auf politische Zäsuren wie etwa bei Breschnews Beerdigung oder auf die Maßnahmen seines Nachfolgers Andropow. Auch die Stimmung der der Putin-Jahre im neuen Jahrtausend werden sehr anschaulich.
Gleichzeitig besticht in diesem Buch die Poesie und liebevolle Ausschmückung des zweckfrei „Schönen“, sei es die russische Küche oder der Obstgarten mit seinen detailliert beschriebenen Apfelsorten und Blumen.
Der Idylle kontrastreich und effektvoll gegenübergestellt ist die tragische Geschichte von Milka, die nicht an Drastik (und etwas Melodramatik) spart. Vor allem in der zweiten Hälfte des Romans wird es inhaltlich reichlich abenteuerlich. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ist Gorcheva-Newberry ein echter Pageturner gelungen.
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