Ingolf U. Dalferth: "Die Krise der öffentlichen Vernunft"

Wie moderne Theologie die Freiheit verteidigt

07:53 Minuten
Das Cover des Buches "Die Krise der öffentlichen Vernunft" von Ingolf U. Dalferth. Zu sehen ist der Schriftzug auf petrolfarbenem Untergrund, der Risse zu haben scheint und etwa an die Oberfläche eines ausgetrockneten Sees erinnert.
© Evangelische Verlagsanstalt
Die Krise der öffentlichen VernunftEvangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022

336 Seiten

25,00 Euro

Von Gesine Palmer · 02.07.2022
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Dass die Demokratie in Gefahr sei, haben viele geschrieben, und oft gilt der Fundamentalismus als Gefahr. Kann politische Theologie die Demokratie schützen? Der Religionsphilosoph Ingolf U. Dalferth unternimmt einen unerwarteten Rettungsversuch.
Ist das wirklich wahr? Gelingt es der vernunftbasierten deliberativen Demokratie nicht mehr, sich zu legitimieren? Ist sie folglich auf dem Weg „zu einer bildmediengesteuerten Talkshow-Ochlokratie mit der Tendenz, sich selbst zu zerstören“?
In seinem anspruchsvollen Buch mit dem Titel „Die Krise der öffentlichen Vernunft“ hat sich der Theologe Ingolf U. Dalferth ein Doppeltes vorgenommen: Er möchte sowohl die Theologie als auch die Demokratie gegen eine fortschreitende Erosion verteidigen. Genauer gesagt möchte er die Theologien als geeignete Helferinnen in der Krise der öffentlichen Vernunft ins Spiel bringen.
Dass eine neue Verteidigung der Demokratie nötig ist, wird breite Zustimmung finden. Spätestens seit dem Sturm auf das Kapitol in Washington im Januar 2021 muss noch dem letzten Optimisten klar sein, dass die Demokratie auch von innen gefährdet ist. Dieser Gefährdung von innen will Dalferth auf den Grund gehen. Dabei formuliert er im Vorwort die Frage, „ob im Horizont [unserer] Demokratiekonzeption die Gottesthematik noch eine Rolle spielen kann“. Diese Frage möchte er entschieden mit „Sie muss es sogar“ beantworten.

Dalferth hat eine dezidiert moderne Theologie im Sinn

Zu diesem doppelten Zweck arbeitet er sich in fünf Kapiteln mit insgesamt 52 Unterkapiteln und gefühlt 5300 Einzelunterscheidungen durch die, wie man so sagt, „einschlägige“ soziologische und politologische Literatur der letzten Jahrzehnte. Wer sich auf die ersten Kapitel zur „gefährdeten Demokratie“ (neun Unterkapitel) und zur „Krise der Öffentlichkeit“ (13 Unterkapitel) einlässt, bekommt einen Crashkurs in Luhmanns Systemtheorie und eine Habermas-Lektüre, die deutlich anzeigt, dass sich die Universitätstheologie auch durch dessen neuestes Werk („Auch eine Geschichte der Philosophie“ von 2019) nicht richtig verstanden sieht.

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In immer neuen Wendungen, die sich teils apologetisch, teils eigensinnig, immer aber intelligent, belesen und engagiert lesen, erläutert Dalferth seine These: Gerade heute, gerade in der Legitimationskrise der deliberativen Demokratie, werde eine öffentliche Theologie – beziehungsweise ein Plural von öffentlichen Theologien – an den Universitäten als den designierten Orten der öffentlichen Vernunft dringender gebraucht denn je.
Dabei hat er freilich eine sehr moderne Gestalt der Theologien im Sinne:
„War es einst ein Fortschritt, die Welt zu betrachten etsi deus non daretur, so geht es heute gerade umgekehrt darum, sie zu betrachten etsi deus daretur. Keine absolute Begründung des Glaubens, kein Eintreten für einen überflüssigen Lückenbüßergott, sondern das Offenhalten dieser Lücke im wissenschaftlichen Diskurs ist die Aufgabe der Theologie an der Universität – einer Lücke, die erlaubt, Gott überall am Werk zu sehen, ohne ihn zur Erklärung von allem möglichen oder von irgendetwas zu verharmlosen. Denn Gott erklärt nichts, aber alles impliziert seine Wirklichkeit.“

Wird die Trennung von Staat und Kirche wieder zum Problem?

Sind seine Gründe für diesen Ansatz plausibel, gibt es diese Theologie der Offenheit überhaupt?
Dalferth selbst jedenfalls arbeitet daran. Und ihre Beziehung zu offenen Gesellschaft möchte er neu begründen. Dies sei allein schon deswegen geboten, weil die für einige Jahrhunderte leidlich tragfähige Lösung nach den europäischen Religionskriegen, die Trennung von Religion und Politik, heute wieder zum Problem geworden sei:

Wer von Gott ausgeht, erwartet von denen, die das nicht tun, dass sie das rechtfertigen. Und wer nicht von Gott ausgeht, fordert von denen, die das tun, dass sie das rechtfertigen. Beide berufen sich auf die Vernunft, aber beide können weder die Unvernunft der anderen Seite schlagend beweisen noch ihre eigene Position allein dadurch rechtfertigen, dass sie die Kritik der anderen Seite widerlegen.

Mit diesem Patt vor dem, was Kant den „Gerichtshof der Vernunft“ nannte, wendet Dalferth sich, wie es Theolog:innnen gern tun, dessen Kritik der praktischen Vernunft zu und zitiert: „Es ist durchaus nöthig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht eben so nöthig, daß man es demonstrire.“ Hatte Dalferth bereits in seinem langen Anlauf zur Erklärung der Universitätstheologie dem theologischen Denken einen spezifischen Platz in der Öffentlichkeit zugewiesen, – nämlich den, an dem es nicht um Politik gehe, sondern um Lebenswahrheiten, – so kommt er in seinem Nachdenken über Kant auf diese Frage der Lebenswahrheiten zurück.

Unterstützung für die Demokratie aus unerwarteter Ecke

„Nicht im Denken, sondern im Leben entscheidet sich die Gottesfrage. Das Denken kommt immer zu spät.“ Hier, ziemlich in der Mitte des Buches, findet dann auch die wichtigste Parallelisierung von offenem theologischem Denken und dem Denken der Freiheit statt. In Entsprechung zur Gottesfrage „zeigte Kant in seiner kritischen praktischen Philosophie, dass es unvernünftig ist, nicht mit der Freiheit zu rechnen, aber nicht vernünftig, sie auf der Basis empirischer Erfahrung demonstrieren zu wollen. Man ist frei, wenn man Freiheit in Anspruch nimmt und sie praktiziert, nicht wenn man einen Vernunftbeweis der Freiheit im Denken hat.“
Dass zu Kants Freiheitskonzeption die Fähigkeit zum Neinsagen gehört, ist eine ihrer großen Stärken, mit denen Dalferth letztlich auch seine eigene, entschieden demokratiefreundliche Theologie ausstattet. Bei ihm kann nicht nur der einzelne Mensch, der in seinen vielfältigen modernen Teilsystemen zu leben und sich zu orientieren hat, "Nein" zur Tyrannei fremder und eigener Neigungen und Wünsche sagen – bei Dalferth ist auch die Theologie in der Lage, sich selbst zu begrenzen, ohne sich deswegen ihre politischen Zähne ziehen zu lassen.
So ist das Buch nicht nur ein Wasserstandsbericht von der Auseinandersetzung der Theologie mit ihren säkularen Kritikern aus der bundesrepublikanischen Soziologie und Philosophie, auch wenn die damit befassten Kapitel schon ein sehr spezielles Gedankenfeld bilden. Ebenfalls ist es nicht nur eine bildende Lektüre zum Training rationaler und manchmal wohl auch nicht ganz so rationaler Unterscheidungen. Es ist vor allem ein interessanter Beitrag aus unerwarteter Ecke gegen den leider zu fürchtenden „ochlotischen Tod“ der Demokratie.
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