Schluss mit der Selbstbespiegelung

Psychologie wird die Welt nicht retten

Eine Hand zieht einen roten Faden aus einem Fadenknäul, das einem Mann im Kopf steckt. (Illustration)
Wer lange genug seine Gedanken entwirrt und an sich arbeitet, der wird alle Probleme lösen. Das wird uns zumindest heutzutage gerne suggeriert. © imago images / fStop Images / Malte Mueller
Ein Einwurf von Thorsten Padberg · 12.05.2023
Achtsam sein oder eine Meditation – dann klappt's schon mit Job, Partner oder Work-Life-Balance. Falsch, sagt der Psychologe Thorsten Padberg. Statt zur Therapie sollten lieber für eine bessere Gesellschaft auf die Straße gegangen werden.
„Die Welt wird von Psychologen gerettet — oder gar nicht“, das hat einmal Abraham Maslow gesagt. Was für ein Zufall — er war selbst Psychologe. Ich bin auch Psychologe, sehe das aber total anders. Aus meiner Sicht hat Psychologie einen fatalen Hang dazu, fast alle sozialen Krisen in das Individuum zu verlagern. Egal, wo der Schuh drückt, wir sollen eine Lösung in uns selbst finden. Ich habe meine Zweifel, dass sich die Probleme der Welt dort lösen lassen. 

Wer sich nicht anstrengt, hat Pech gehabt

Schauen wir uns einige Beispiele an: Dieses Jahr, verspricht man mir, wird genauso, wie ich es mir wünsche. Einzige Voraussetzung: Immer schön achtsam sein!
Ich höre: Im Liebesleben hilft mir Biografiearbeit. Sind Beziehungsschwierigkeiten doch immer Spiegel früher Bindungsschwierigkeiten. In einer Psychotherapie kann man dann seine Kindheit aufarbeiten und im Anschluss klappt es auch mit dem Nachbarn. Und wenn die Arbeit mal mühselig wird, dann hilft mir gut trainierte Resilienz.

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Das ist doch ein Glück, werden Sie sagen, so hält man die Mittel für jede Notlage in der eigenen Hand. Jeder ist seines Glückes Schmied und wer sich nicht anstrengt, hat halt Pech gehabt. Ganz einfach. Oder doch nicht? 
Nein, so einfach ist es eben nicht. Psychologie und die Arbeit an uns selbst erscheinen aktuell als der Schlüssel zum Glück, weil wir die Welt immer schon durch die psychologische Brille betrachten. Noch mal zurück zu Maslow: Der sah die Selbstverwirklichung als die höchste Stufe einer sogenannten Bedürfnispyramide. Wer oben auf ihrer Spitze mit sich im Reinen war, der zettelte keine Kriege an und schädigte weder sich noch andere.

Immer weiter an der eigenen Psyche arbeiten

Kein Wunder, dass das heute fast jeder für sich will. Nur, so eine Pyramide braucht eben auch ein Fundament. Für Maslow bestand das Fundament aus einem gesicherten Arbeitsplatz, gesundem Wohnraum und stabilen Beziehungen. Die Arbeit an sich selbst war etwas, das man sich leisten konnte, wenn alles andere schon gegeben war.
Dieses Fundament gibt es heute kaum noch. Wir sollen zuerst die Psyche auf Vordermann bringen, erst danach haben wir Arbeit, Liebe und Sicherheit verdient. Das Kind in dir muss erst mal Heimat finden! Also, ab zur Psychotherapie, zum Coaching und zur „Persönlichkeitsentwicklung“! Solange bis wir endlich ansprechend genug sind. Und natürlich immer ansprechbar.
Sollten Sie danach immer noch Probleme haben, dann tickt da vielleicht doch noch eine Selbstwertbombe. Aber keine Angst, da hilft eine Loving-Kindness-Meditation, die wirds schon richten: „Ich bin gut, ich bin wertvoll, ich habe Liebe verdient.“ Wenn nicht, dann immer schön weiterüben, Sie haben sich vermutlich nur nicht genug angestrengt! Damit wird aus der „Freude, den Selbstwert zu stärken“, eine verdammte Pflicht.

Gesellschaftlicher Wandel statt Therapie

Egal, wenn denn das Ergebnis stimmt. Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Oder auch nicht. Der Anblick eines Bettlers kann traurig machen. Wer das als Zeichen einer noch immer nicht verwundenen Kränkung betrachtet, der wird an dem Bettler vorbei direkt in die psychologische Praxis gehen.
Ist Arbeitsstress nur der Ausdruck einer schon früh geschundenen Seele, dann lohnt es nicht, einer Gewerkschaft beizutreten. Und glauben Sie, durch den psychologisch korrekten Gefühlsausdruck beim Speed-Dating mehr Erfolge einfahren zu können? Dann sind Sie vermutlich populären Beziehungsratgebern auf den Leim gegangen. In all diesen Beispielen stimmt nämlich schon das Setting nicht. Die versuchte psychologische Lösung führt zu nur immer mehr Selbstbespiegelung.
Die echte Lösung liegt nicht in uns, in der Selbstverbesserung. Sie liegt bei uns. Das Kind in dir sollte mehr aus dem Haus und auf die Straße! Dort trifft es vielleicht Gleichgesinnte, die mit ihm gemeinsam für Chancengleichheit, gute Schulen, Kitas oder finanzielle Sicherheit kämpfen.
Tun wir etwas gemeinsam, wird die Beschäftigung mit den Abgründen der Seele zu einem Nebenschauplatz. Psychologie wird die Welt nicht retten, das müssen wir tatsächlich schon selbst tun. Wir können das auch, wenn wir statt unseres Innenlebens wieder das Leben da draußen in den Blick nehmen.

Thorsten Padberg arbeitet als Verhaltenstherapeut, Dozent und Supervisor in Berlin. Er beschäftigt sich mit der Wirksamkeit und den gesellschaftlichen Auswirkungen von Psychotherapie, psychiatrischer Diagnostik und Psychopharmaka. Zudem schreibt er als freier Journalist für verschiedene Medien sowie wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Zeitschriften. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die Depressions-Falle. Wie wir Menschen helfen, statt sie für krank zu erklären“ (Verlag S. Fischer).

Thorsten Padberg lächelt für ein Porträtfoto.
© Caroline Pitzke
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