Carolin Amlinger über intellektuelle Debatten

Empörungskultur als Geschäftsmodell

Eine Frau mit schulterlangen braunen Haaren blickt in die Kamera. Hinter ihr ist eine rote Wand. Es ist die Sprachsoziologin Carolin Amlinger.
Bei Intellektuellen, die auf Empörung setzen, wirke der anklagende Blick merkwürdig entpolitisiert, sagt die Soziologin Carolin Amlinger. © IMAGO / dts Nachrichtenagentur
Ein Kommentar von Carolin Amlinger · 17.05.2023
Wenn Intellektuelle in Debatten mitmischen, bekomme meist Gehör, wer sich über die Entrüstung der anderen empört, kritisiert die Soziologin Carolin Amlinger. Wenn allerdings die Empörung zum Geschäftsmodell werde, begingen Intellektuelle Verrat.
Verteidigt jede Gruppe nur noch verbissen ihre Sonderinteressen, treibt die Gesellschaft einem zerstörerischen Krieg entgegen. Dieser Satz stammt nicht von der Diskursmaschine Twitter. Es ist auch kein mahnender Zeigefinger gegen Hass und Häme der digitalen Streitkultur. Zu finden ist er sinngemäß in dem Essay „Der Verrat der Intellektuellen“, veröffentlicht 1927 von dem französischen Autor Julien Benda.
Der Intellektuelle, sagt Benda, verrate sein Geschäft, wenn er vom Geist des Hasses gegen das getrieben wird, was nicht dem eigenen Standpunkt entspricht. Er warnte vor den politischen Gefahren eines polarisierten Debattenraums. Damals stand er damit eher alleine da.

Pazifisten im Einstecken, Bellizisten im Austeilen

Heute gibt es sie hingegen zuhauf. Die intellektuellen Mahner, die zur Mäßigung aufrufen. Die geistigen Provokateure, die Toleranz für randständige Meinungen einfordern. Da ist der Kolumnist, der im Gendern den Brandbeschleuniger sozialer Spaltung wittert. Da ist die Politikerin, die die Anstifter zur Zwietracht in den Gängen des Bioladens verortet. Oder der Philosoph, der die Wissenschaft vor Ideologisierungen schützen will und Rechtspopulisten einlädt.
Doch die Gefährdungen der Demokratie gehen in ihren Augen nicht, wie noch zu Bendas Zeiten, von einem um sich greifenden Nationalismus aus. Nein. Es sei der Moralismus des Liberalismus, der heute autoritäre Blüten treibe. Sie alle fordern Offenheit und Pluralität, sehen sich von ihren liberalen Gegnern zensiert, diskriminiert, mundtot gemacht.

Geschäftsmodell mit Pathos

Was sie in ihrer Anklage verschweigen: Sie sind Pazifisten zwar im Einstecken, Bellizisten aber im Austeilen. Wer Kritik übt, der muss mit Gegenkritik rechnen. Das ist seit jeher das Geschäft der Intellektuellen. Heute ist dies zu einem Geschäftsmodell geworden. Öffentlich Gehör bekommt, wer sich über die Empörung der anderen empört. Damit wird die Diskursmaschine, die Intellektuelle so oft verteufeln, Herr über sie. Die Interventionen folgen einem festgelegten Skript.
Eine Glosse gegen das Gendersternchen? Nicht schon wieder, seufzen wir zunächst. Das kann nicht sein, twittern wir daraufhin erbost. Es ist erwartbar und doch funktioniert es immer. Eine Welle der Entrüstung weitet sich aus. Diejenigen, die den wütenden Grimm überhaupt erst ausgelöst haben, unterbreiten daraufhin Therapiemodelle. Ambiguität und Widerspruch auszuhalten, wird nun von jenen eingefordert, die zuvor vereindeutigten.
Damit das alles aber nicht allzu profan und billig wirkt, wird das Geschäft mit der Empörung aufgeladen mit der pathetischen Pose des Intellektuellen. Der Begriff des Intellektuellen war sprachhistorisch auch ein Schimpfwort, mit dem die Mächtigen die Machtlosen schmähten, die Kritik an ihnen übten.

Schuldzuweisung statt Kritik

Nur, das „Ich klage an!“ des französischen Autors Émile Zola in der Geburtsstunde der Intellektuellen, der Dreyfus-Affäre, wurde angesichts einer real existierenden Bedrohung formuliert. Sprechen Autoren heute öffentlichkeitswirksam von Cancel Culture und Zensur, inszenieren sie sich heroisch als Abtrünnige. Sie stellen dadurch die Machtverhältnisse auf den Kopf und leugnen ihre diskursive Macht.
Der anklagende Blick des Intellektuellen wirkt dadurch merkwürdig entpolitisiert. Er richtet sich nur instrumentell gegen gesellschaftliche Missstände. In erste Linie ist die Anklage ein Mittel, um sich über den eigenen Opferstatus zu singularisieren. Folgt der intellektuelle Diskurs den Gesetzen der Empörung, geht es um Schuldzuweisung statt um Kritik. Darin liegt der Verrat der Intellektuellen heute wie damals.

Carolin Amlinger ist Literatursoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel. 2023 erschien "Gekränkte Freiheit - Aspekte des libertären Autoritarismus" bei Suhrkamp, das sie gemeinsam mit dem Soziologen Oliver Nachtwey geschrieben hat.

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