Die Stiftung Bauhaus Dessau sagt wegen eines Shitstorms das Konzert der linken Band „Feine Sahne Fischfilet“ ab. Der AfD-nahe Künstler Axel Krause darf seine Werke nach öffentlichen Protesten nicht bei einer Ausstellung zeigen. Die Humboldt-Universität Berlin streicht den Vortrag der Wissenschaftlerin Marie Luise Vollbrecht, die über die biologische Zweigeschlechtlichkeit sprechen wollte.
„Solange wir es Menschen gibt, die sprechen, schreiben sich äußern, gibt es eben auch andere, die das kontrollieren wollen und die das einschränken. Und das finde ich sehr spannend.“
Nikola Roßbach lehrt Literaturwissenschaft an der Uni Kassel. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte: Wie Schrift und Sprache normiert und kontrolliert werden. Damit meint Roßbach nicht nur staatliche Zensur, sondern die subtileren Formen, die vielen Graustufen des Löschens und Selektierens. Aktuell arbeitet sie an einem Handbuch zum Thema – inklusive eines Kapitels über das Phänomen der sogenannten Cancel Culture. Ein Begriff, den Roßbach eigentlich ablehnt.
„Heute wird sich sehr aufgeregt, wenn der Asta mal von einem rechten Redner eine Vorlesung stürmt. Und dann wird sofort gesagt, das ist Cancel Culture. Wir haben jetzt einen neuen Begriff, mit dem man versucht, Protest zu diskreditieren.“
Nikola Roßbach beschäftigt sich vor allem mit der frühen Neuzeit. Maulkörbe und Retuschen – die findet sie auch in der Zeit der Reformation oder der Aufklärung.
„Es gibt eben immer wieder auch bestimmte Knackpunkte in der Geschichte der Literatur oder überhaupt der Kultur überhaupt, Medienumbrüche, an denen das ganz besonders deutlich wird. Man sagt zum Beispiel, dass bereits die Entwicklung der Schriftsprache so eine Art Zensur Schub gegeben hat. Sobald man etwas schriftlich fixieren und damit natürlich auch länger tradieren konnte, wurde es wichtiger, dass auch einzuschränken, die Diskurskontrolle zu haben.“
Zensur als Instrument der Herrschenden
„Allein durch die Erfindung oder die Nutzung des Papiers hatte man ja sehr viel mehr Möglichkeiten. Auch wenn man noch händisch kopieren musste, um Meinung zu verbreiten“, sagt Gerald Schwedler, Historiker an der Universität Kiel.
„Ein riesengroßer Vorteil war, dass es differenzierter war und dadurch natürlich auch, wenn eine differenzierte Meinung in den Umlauf kam, war es komplizierter diese Meinung aus der Welt zu schaffen. Und entsprechend musste man auch schärfer gegen diese Einzelmeinungen vorgehen. Sprich mit der massenhaften Verbreitung von Büchern musste man auch stark an den Medien der Zensur arbeiten.“
Was Nikola Roßbach und Gerald Schwedler hier beschreiben, gilt für Zensur als Instrument der Herrschenden. Den Gegner besiegen, indem man ihn nicht zu Wort kommen lässt, die freie Meinungsäußerung verhindert, das Gesprochene und Geschriebene kontrolliert. Im alten Rom schon ging das bis hin zur sogenannten Damnatio memoriae. Ein Begriff, der die Tilgung des Andenkens an eine Person meint und sich vor allem auf die Zeit des Römischen Reichs bezieht.
Nachdem Kaiser Licinius (263-325) in Ungnade gfallen war, wurden die Gesetzesschriften "gesäubert".© IMAGO / UIG /
„Ein Beispiel aus der reichen Reihe der römischen Kaiser zum Beispiel ist Kaiser Licinius, gestorben 325 und war ein Antagonist von Kaiser Konstantin. Er wurde als Hochverräter verurteilt und getötet. Und im Nachhinein war dann die Frage, wie geht man mit einer Person um, die einmal Kaiser war und dann in Ungnade gefallen war? Und das große Problem ist das römische Recht, das davon ausgeht, dass ein Gesetz nur dann gültig ist, wenn es von einem Kaiser mit Ort und Jahr und Kaisernamen autorisiert ist“, sagt Gerald Schwedler.
Gerald Schwedler kam vor etwa 15 Jahren zum Thema. Damals begann er sich zu fragen, wie Meinungsbildung im Mittelalter funktionierte. Ein bis dato kaum beleuchtetes Feld. In seiner Habilitationsschrift beschäftigte sich Schwedler mit dem „Vergessen, Verändern und Verschweigen im frühen Mittelalter“.
„Wenn jetzt ein Kaiser in Ungnade gefallen ist, ist die Rechtskraft des Gesetzes infrage gestellt. Und dann hat es ein unendlich großes Heer, also etwa 50 bis 100 Juristen gegeben, die nach seinem Tod anfangen mussten, die Gesetze durchzusehen, zu sortieren, welche an Rechtskraft behalten sollen. Und die wurden manipuliert, damit entweder sein Name rausgestrichen wird oder das Datum rausgestrichen wurde, damit das römische Rechtswesen nicht darunter leidet, dass eine Person in Ungnade gefallen ist.“
Verächtlichmachung des Gegners
Der Historiker weiß um die Widersprüchlichkeit dieser frühen Tilgungsaktionen. Zu denen auch damals schon das Verächtlichmachen des Gegners gehört.
Berühmtes Beispiel aus der Römerzeit sind die 14 Reden des Cicero gegen seinen Widersacher Marc Antonius. Diese Philippiken sparen nicht mit Schmähungen und Herabwürdigungen, es sind Hassreden im Dienst der Republik. Denn Cicero fürchtet zurecht, das Mark Antonius sich als Caesars Nachfolger zum Diktator aufschwingen wird. Die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden verwahrt eine im 15. Jahrhundert kopierte Handschrift auf – unter der Überschrift:
"Die zweite Rede des Marcus Tullius Cicero gegen Mark Anton, mit der er einen wesentlichen Beitrag zu seinem eigenen gewaltsamen Lebensende geleistet hat."
Tatsächlich lässt sich Ciceros Ermordung im Dezember 43 verstehen als letzte Windung einer Eskalationsspirale, die Ciceros Beleidigungen ausgelöst hatten: Mark Anton wehrt sich zuerst mit Worten und Flugschriften, dann nutzt er seine neue Machtstellung als Triumvir, um Cicero zu ächten.
Nun darf jedermann Cicero töten, denn er steht auf den Proskriptionslisten. Am Ende stellt Mark Anton den abgeschlagenen Kopf des Cicero an der Rednertribüne auf dem Forum zur Schau. So will er das endgültige Verstummen seines Gegners inszenieren – vergeblich, wie Ciceros Berühmtheit bis heute belegt. Doch das Canceln geht weiter:
Martin Luther poltert gegen die katholische Kirche
„Wer Gott reden hören will, der lese die Heilige Schrift; wer den Teufel reden hören will, der lese des Papstes Dekrete und Bullen."
So poltert der ehemals katholische Mönch Martin Luther in einer seiner Kanzelreden. Der Kirchenrebell spielt an auf all die Verbote und inquisitorischen Maßnahmen, mit denen die Kirche ihre Macht sicherte.
Wenn der Papst seine Krone absetzt und von seinem Thron herunter steigt (...) und bekennt, dass er geirrt und die Kirche zerstört und unschuldiges Blut vergossen hat, dann werden wir ihn in die Kirche aufnehmen. Andernfalls muss er für uns immer der Antichrist bleiben!
Martin Luther
Die solcherart in Predigten und Flugschriften geschmähte Kirche weiß sich zu wehren. Der Mediavist Gerald Schwedler.
„Die Reformationshistoriker wissen, dass natürlich vom Papsttum die volle Bandbreite an Möglichkeiten der Einflussnahme genommen worden ist, vom Verbrennen und Zerstören, vom Vertreiben von protestantischen Gedanken, vom Menschen Ausgrenzen bis hin zu ganz subtilen Umschreibeaktionen. Dass etwa die römische Kirche ein groß angelegtes Geschichtswerk, die Annalis Ecclesiasttici, die sie angelegt hat, in der sozusagen die römische Sicht der Geschichte dargelegt worden ist, in der die protestantische Bewegung kleingeredet worden ist, als Error dargestellt worden ist. Heißt also:
Die ganze Bandbreite vom Canceln, wie man es so nennen würde, bis hin zum Umschreiben und Reframing wie die neuen Begriffe wären, dazu muss man natürlich sagen, weder Canceln noch Framing sind legitime Diskurstechniken, sondern sozusagen immer auch zu verurteilen als nicht im Diskurs, im Austausch durchgeführte Möglichkeiten.“
Martin Luther: Bediente sich später auch der Diffamierung und Ausgrenzung seiner Kritiker. © picture alliance / akg-images / akg-images
Hatte sich Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms mit seinem berühmten „Hier stehe ich und kann nicht anders“ als Meister der Polemik gezeigt und vor allem als Streiter gegen die Unterdrückung von freier Rede und Religion, so ist er spätestens mit den Bauernkriegen jemand, der die gleichen Mittel des Ausgrenzens, Abkanzelns und Diffamierens pflegt wie vormals das Papsttum.
„Wenn der Teufel aus den Häusern, in denen er poltert, vertrieben wird, so fährt er in die Menschen, nämlich in die Ketzer, Rottengeister, in Müntzer und seinesgleichen.“
„Ich habe sehr viele taube Nüsse aufgebissen, aber ich meinte, sie wären gut. Zwingli und Erasmus sind eitsel taube Nüsse, die einem ins Maul scheißen.“
Die Aufklärung und der Kampf um Pressefreiheit
In diesem historischen Licht betrachtet zeigt sich: Das, was heute als Cancel Culture angeprangert wird, ist in vielen Merkmalen schon mindestens 500 Jahre alt.
„Es ist so, dass wir in der Aufklärung erste Gegenbewegungen haben gegen Zensur, also Kämpfe für Pressefreiheit. Die Engländer sind da glatte 100 Jahre früher dran als die Deutschen. Bei uns kann man das erst in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts tun, das wirklich für Pressefreiheit gekämpft wurde. Es ist aber so, dass das trotzdem noch längst nicht alle wollten.
Das ist ja etwas, was wir heute kaum mehr nachvollziehen können, dass Zensur, gar kein negativer Begriff war. Zensur bedeutete Sicherheit, Ordnung und Geregeltheit und Frieden. Es gab nur ganz wenige Aufklärer, zum Beispiel, die für komplette Zensurfreiheit waren. Also Lessing gehört dazu, und ansonsten waren auch die Aufklärer absolut dafür, dass man das Böse zensieren muss. Und das Böse war nun eben jetzt das andere. Das antiaufklärerische zum Beispiel – das Altgläubige“, sagt Nikola Roßbach.
Moralische Überhöhung der eigenen Position
Die Herabwürdigung und Diffamierung des anderen gehört dazu, die moralische Überhöhung der eigenen Position, das Argumentieren mit dem edleren Zweck, der Ausschluss des anderen bis hin zur Tabuisierung. Man könnte das Phänomen deshalb auch mit Ad-hominem-Kultur übersetzen.
Heinrich Heine, gemalt von Gottlieb Gassen. Der Dichter kannte beide Seiten: Er teilte aus, war aber auch selbst von Zensur betroffen. © picture-alliance / akg-images / akg-images
Die Rhetorik, also die Lehre von der Redekunst, definiert ein Argumentum ad hominum als Argument, das eine Aussage zu widerlegen versucht, indem ihr Sprecher diskreditiert wird. Es stürzt sich auf die Person, auf den Menschen statt auf seine Worte. Und weil der Mensch ein eitles Wesen ist, sind selbst die klügsten Köpfe nicht frei vom Gebrauch dieser unfeinen und gefährlichen Methode:
Groß’ mérite ist es jetzo, nach Saadi‘s Art zu girren,
Doch mir scheint's égal gepudelt, ob wir östlich, westlich irren.
Sonsten sang, bei’m Mondenscheine, Nachtigall seu Philomene;
Wenn jetzt Bülbül flötet, scheint es mir denn doch dieselbe Kehle.
Heinrich Heine
Mit diesen Versen beginnt einer der größten Skandale der deutschen Literaturgeschichte. Eine Geschichte von zwei Dichtern – und Konkurrenten – beim selben Verlag, von Spott und Gegenspott und schließlich dem gegenseitigen Versuch, den jeweils anderen unmöglich zu machen. Die Geschichte endet damit, dass gleich beide diskreditiert werden. Oder eigentlich sich selbst bloßstellen.
Heinrich Heine veröffentlicht in seinen „Reisebildern“ 1827 ein paar auf den Kollegen August von Platen gemünzte Spottverse Karl Immermanns. Platen habe die Form seiner kunstvoll im orientalischen Stil gedrechselten Zeilen aus Goethes „West-östlichem Divan“ geklaut, sei nur ein müder Nachahmer, einer von vielen unoriginellen Goethe-Epigonen.
Aus Bequemlichkeit verehren sie die Kühe frommer Inden,
Dass sie den Olympus mögen nächst in jedem Kuhstall finden.
Heinrich Heine
Die Zeilen stammen nicht von Heine selbst, aber trotzdem ist er es, der jetzt den Zorn August von Platens abbekommt. Platen schreibt ein Lustspiel „Der romantische Ödipus“, in dem er Heine in antisemitischer Manier als „Samen Abrahams (…) Petrark des Laubhüttenfestes (und) Synagogenstolz“ tituliert. Und einen gewissen Nimmermann, in dem das Publikum unschwer den erwähnten Karl Immermann erkennt, über Heine sagen lässt:
Sein Freund, ich bin's; doch möcht' ich nicht sein Liebchen sein;
Denn seine Küsse sondern ab Knoblauchsgeruch.
August Graf von Platen
Heine hat sich gerade drei Jahre zuvor taufen lassen und den jüdischen Vornamen Harry abgelegt. Um nicht auf sein Jüdischsein reduziert zu werden und auch, weil nur ein getaufter Heinrich Heine damals Aussichten hat, in deutschen Landen eine akademische Karriere zu machen. Und jetzt also Platen, der ihn mit bösesten antisemitischen Klischees bloßstellt.
Heinrich Heine kontert. Im dritten Band seiner Reisebilder, der 1830 erscheint, ist die Rede von Platen, den Heine einen „Dichter und warmen Freund“ nennt, „mehr ein Mann von Steiß als ein Mann von Kopf“. Wofür er besonders gerühmt werde, sei seine …
Zuvorkommenheit gegen Jüngere, bei denen er die Bescheidenheit selbst gewesen sei, indem er mit der liebreichsten Demuth ihre Erlaubnis erbeten, dann und wann zu ihnen auf’s Zimmer kommen zu dürfen.
Heinrich Heine
War Platen bei seinem Angriff auf Heine voll ad hominem gegangen, so zahlt dieser ihm jetzt mit gleicher Münze zurück und outet den Dichterkollegen als Homosexuellen. Heinrich Heine kann seine akademischen Ambitionen vergessen und zieht kurz nach der Affäre nach Paris. August von Platen, der sich damals in Italien aufhält, wagt nicht, nach Deutschland und in die deutsche Öffentlichkeit zurückzukehren. Er bleibt bis an sein Lebensende im freiwilligen Exil.
Die literaturgeschichtliche Episode ist geeignet, einen Blick auf die Rahmenbedingungen der – möchte man diesen Begriff noch einmal gebrauchen – Cancel Culture zu werfen. In Blogs, Kanälen und Feuilletons wird immer wieder davon gesprochen, dass die Basis des Boykottierens und Absagens die politische Korrektheit sei.
August Graf von Platen und Heinrich Heine lieferten sich einen öffentlich ausgetragenen Streit. Am Ende waren beide Verlierer.© picture alliance / akg-images / Moritz Rugendas
Eine Sprache, die Rücksicht nimmt auf Mitmenschen, auf tatsächliche oder gefühlte Ausgrenzung von ethnischen oder religiösen Minderheiten, von Frauen oder Menschen mit sexuellen Präferenzen, die nicht der vermeintlichen Norm entsprechen. Und genau das ist der Unterschied zwischen 1840 und heute:
Heine und Platen lebten eben nicht in einem Land, das die Würde des Menschen grundgesetzlich unter Schutz steht. Sexuelle Orientierung – Platens vermeintliche Homosexualität – und religiöse Zugehörigkeit – Heines jüdische Herkunft – genügten vollkommen, um die Träger dieser Eigenschaften vor der Allgemeinheit zu diffamieren und auszugrenzen – bis hin zum Exil.
1840 ließen sich die beiden Minderheitengruppen noch gegenseitig ausspielen – heute gibt es ein viel größeres Bewusstsein für die gemeinsame Diskriminierungserfahrung. Vielleicht ist es das, was den konservativen Bewahrern Angst macht. Wie dem auch sei: Es geht um ein Verschieben dessen, was als „normal“ gilt in der Gesellschaft – und um die Rechtmäßigkeit der Methoden.
Diffarmierung von Remarques "Im Westen nichts Neues"
Das Beispiel von Erich Maria Remarque erzählt die Vorgeschichte und Wirkungsweise dieser Unkultur des Nichtaushaltens anderer Ansichten.
Am letzten Januartag 1929 erscheint ein Buch, das in kürzester Zeit Millionenauflagen erreichte. In mehr als 50 Sprachen übersetzt wurde es zum meistgelesenen deutschen Roman des 20. Jahrhunderts: Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Die Vossische Zeitung schreibt zu ihrem Vorabdruck:
Dicke Bücher sind erschienen, in denen Schlachten geschildert und Lorbeeren verteilt wurden. Was den Menschen im Feuerofen geschah, was sie empfunden, erhofft, gelitten, ging unter in dem leeren Gerede von Heldentum und Dank des Vaterlandes.
Vossische Zeitung
Nun aber gäbe es ein Buch, fährt die Vossische Zeitung fort, welches das wahre Bild des furchtbarsten Krieges lebendig erhalte. Es handelt vom jungen Kriegsfreiwilligen Paul Bäumer, der an der Westfront tötet und das Sterben der Kameraden erlebt, es handelt vom Schrecken des Krieges, vom Verfall der Menschlichkeit, vom Mythos Kameradschaft und von einer verlorenen Generation.
„Sie denken heute noch, es wäre wundervoll, fürs Vaterland zu sterben. Damals schenkten wir Ihnen Glauben, aber das erste Trommelfeuer hat uns belehrt, denn einen schönen Tod habe ich an der Front noch niemals gesehen. Sterben tut niemand gern, ob an der Front oder zu Haus.“
Die Nationalsozialisten ließen gezielt Kinovorführungen des Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ von Regisseur Lewis Milestone in Berlin stören.© picture alliance / akg-images / akg-images
Am 4. Dezember 1930 zeigt das Berliner Kino am Nollendorfplatz den von Lewis Milestone inszenierten amerikanischen Spielfilm „Im Westen nichts Neues“. Die deutsche Filmpremiere verschärft noch einmal den braunen Sturm auf Remarque und sein Werk. Für die Nazis ist „Im Westen nichts Neues“:
„Eine jauchzende Entschuldigung der Deserteure, Überläufer, Meuterer und Drückeberger. Woanders hinge ein solcher Schmierfink längst von Staats wegen an einer Laterne, oder er wäre von den Frontsoldaten in seinem Elemente der Latrine ersäuft worden.“
Am 5. Dezember, zur zweiten Vorstellung, kommt, angeführt von ihrem Berliner Gauleiter Joseph Goebbels, eine große Zahl Nazis zum Nollendorfplatz. Berichte schildern, dass sobald der Film angelaufen war, ein unbeschreiblicher Radau losbrach. Hetzparolen wurden von den Rängen gerufen, Stinkbomben in den Zuschauerraum geworfen, weiße Mäuse im Parkett losgelassen und Schlägereien angezettelt, bis die Polizei eingriff und das Kino räumte. Goebbels schreibt zufrieden in sein Tagebuch:
Schon nach 10 Minuten gleicht das Kino einem Tollhaus. Die Polizei ist machtlos, die erbitterte Menge geht gegen die Juden an. Die Polizei sympathisiert mit uns heute Morgen. Die Zeitungen sind voll von unserem Protest. Aber selbst das Berliner Tageblatt wagt nicht, gegen uns zu schimpfen. Die Nation steht auf unserer Seite, also Sieg.
Joseph Goebbels
Gegen die Zulassung des Films durch die Prüfstelle Berlin erhoben die Reichsländer Sachsen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg Einspruch. Die durch Goebbels angeheizte Stimmung veranlasst die Deutschnationalen, eine Reichstagsdebatte zu beantragen. Ihr Sprecher Alfred Hugenberg schreibt an Reichspräsident Hindenburg, er möge eingreifen. Reichswehrminister Groener fordert ein Verbot des Films.
Am 10. Dezember entscheidet die Filmoberprüfstelle, nach einer geschlossenen Vorstellung vor führenden Politikern und Beamten. Das Auswärtige Amt behauptet, der Film schade dem Ansehen im Ausland, das Innenministerium meint, der Film wirke auf den deutschen Beschauer qualvoll und niederdrückend und da das deutsche Volk sich in einem Zustand innerer Not und Zerrissenheit befinde, sei alles abzulehnen, was den inneren Zwiespalt vertiefe. Der Film gefährde die öffentliche Ordnung und Sicherheit.
Ein Sieg für den Faschismus
Noch vor Bekanntgabe des Urteils zieht die Produktionsfirma den Film in Deutschland zurück. Dann widerruft die Kammer die Zulassung des Films.
„Der Faschismus hat seinen ersten großen Sieg nach den Reichstagswahlen vom 14. September errungen“, schreibt Carl von Ossietzky in der Weltbühne.
Und das Berliner Tageblatt veröffentlicht ein Interview mit dem Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun, in dem dieser sagt, der Film habe ihn tief beeindruckt und es sei ihm unerfindlich, wie die Vorführung dem Ansehen Deutschlands schaden solle. Wörtlich sagt er: „Ein Volk, das die Wahrheit nicht mehr verträgt, gibt sich selber auf.“
Deutschnationale und NSDAP bringen im Preußischen Landtag ein Misstrauensvotum gegen den Sozialdemokraten Braun und seinen Innenminister Severing ein. Sie hatten sich gegen den Spruch der Filmoberprüfstelle gewandt. Die Abstimmung scheitert. Aber wie hatte Goebbels am 9. Dezember in seinem Tagebuch geschrieben:
Heute neue Massenproteste. Die Schupo plant umfangreiche Absperrungen. Wir werden sie durch kleine Taktik mürbe machen. Mal sehen, wer den längeren Atem hat.
Joseph Goebbels
Letztlich siegt der braune Shitstorm. Am 30. Januar 1933, genau vier Jahre nach dem Erscheinen von „Im Westen nichts Neues“, übertragen die Nationalkonservativen und Deutschnationalen die Macht an Adolf Hitler. Dann brennen die Bücher von Remarque, der wie auch Otto Braun ins Exil flieht.
Zensur in der DDR
Zu den tragischen Entwicklungen deutscher Geschichte gehört, dass nach der Katastrophe der Naziherrschaft ausgerechnet einige derer, die von Ausgrenzung und Gesinnungsterror betroffen waren, nun selbst beteiligt waren an Maulkörben, Retuschen und Zensur.
„Unsere Deutsche Demokratische Republik ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbar Maßstäbe der Ethik und Moral für Anstand und gute Sitte.“
Erich Honecker hatte während der NS-Diktatur neuneinhalb Jahre im Zuchthaus gesessen, 1965 ist er der Hauptankläger beim sogenannten Kahlschlagsplenum des Zentralkomitees der SED. Es richtet sich gegen Schriftsteller, Filmemacher und Künstler, deren Werke als unliebsam und schädlich für die Parteilinie eingestuft werden.
„Stefan Heym gehört auch zu den ständigen negativen Kritikern an den Verhältnissen in dieser Deutschen Demokratischen Republik. Er ist offensichtlich nicht bereit, Ratschläge, die mehrfach gegeben worden sind, zu beachten. Er benutzt ein Auftreten in Westdeutschland zur Propagierung seines Romans Tag X, der wegen einer falschen Darstellung der Ereignisse der 17 jr. Der 53 von den zuständigen Stellen nicht zugelassen werden konnte. Er schreibt Artikel für im Westen erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften, in denen er das Leben in der Sowjetunion und in der Deutschen Demokratischen Republik falsch darstellt.“
Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Stefan Heym und Christa Wolf werden gemaßregelt, Filme wie „Spur der Steine“ mit Manfred Krug“ oder „Karla“ von Ulrich Plenzdorf verboten.
Die Zensur findet laut Verfassung der DDR nicht statt, die Meinungsfreiheit ist offiziell vom Staat geschützt. Tatsächlich aber operiert das System mit Druckgenehmigungsverfahren und Auftrittsverboten, sperrt Bücher in den Giftschrank und unliebsame Künstler aus. Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Stefan Krawczyk sollen als Beispiele genügen. Hauptakteur war damals der Staat, die Partei. Nicht aktivistische Minderheiten. Darauf verweist die Literaturwissenschaftlerin und Zensurexpertin Nikola Roßbach.
„Dieses aktuelle Canceln, da besteht die besondere Qualität tatsächlich daran, dass es die Cancelnden das mit dem Ziel tun, eine diskriminierungsfreie gerechte Gesellschaft zu schaffen. Das war früher eigentlich nicht das Ziel, und das finde ich schon mal sehr speziell.“
Der Kabarettist Wolfgang Neuss durfte im Zuge der Ausbürgerung von Wolf Biermann nicht mehr in die DDR einreisen. © picture alliance / AP / EDWIN REICHERT
„Neulich nun wickel ich gerade mal wieder so ein schönes Stücken gepökelte Sau zwischen die Artikelchen und wat lese ick da? In Wiesbaden lese ich ist verboten, eine Straße nach Kurt Tucholsky zu nennen. Wohl wegen der Autofahrer könnten alle Linksabbieger werden.“
Der Kabarettist Wolfgang Neuss 1965 bei einem gemeinsamen Auftritt Wolf Biermann, der kurze Zeit später in der DDR mit einem Auftrittsverbot belegt wird.
„Und dann lese ich das bei uns sogar einer im Bundestag rief: ´Bert Brecht ist für Deutschland nicht repräsentativ.` Und da zuckte es mir doch durch den, wo ich früher drauf saß. Ausgerechnet die beiden, dachte ich, abgesehen davon, dass sie mich nun nach dem Krieg mal auf den Weg gebracht hatten. Aber Tucholskys und Brechts Bücher, die waren ja nun im Dritten Reich auch verbrannt durch diese – Reichsschrifttumskammer. Na, ahnen Sie schon einen kleinen Kausalzusammenhang zwischen meine Schädeldecke und meine Schuhsohle?“
Wolfgang Neuss kritisiert, dass Schriftsteller und Künstler, auf die sich die Kulturfunktionäre in Pankow berufen, es schon deshalb in der Bonner Republik schwer haben. Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Anna Seghers gehören nach Auffassung des konservativen Mainstreams in der frühen Bundesrepublik nicht zur "deutschen Kultur". Bis weit in die 80er-Jahre hinein herrscht in den konservativen Milieus der BRD eine Abwehrhaltung gegenüber Literatur und Kunst, die links vom Kulturbegriff der CDU/CSU steht. Und es fehlt nicht an Boykottversuchen.
Affront um Staeck-Plakat
„Mit einem für Bonner Verhältnisse ungewöhnlichen Eklat hat gestern eine Ausstellung des politischen Karikaturisten Klaus Staeck in den Räumen der Parlamentarischen Gesellschaft in Bonn stattgefunden.“
Die politische Korrespondentin des WDR Gisela Marx am 31. März 1976.
„Nach Aussagen mehrerer Augenzeugen rissen Abgeordnete der CDU/CSU unter lauten Beschimpfungen während der feierlichen Eröffnungsveranstaltung Bilder, Plakate von den Wänden, zerfetzten sie, traten sie mit den Füßen und schrien dabei: dies sei politische Pornografie, und dies insgesamt sei ein Schweinestall. Letztlich wurde der CSU-Landesgruppenchef Richard Stücklen herbeigerufen und dieser erklärte vor Journalisten, diese Ausstellung in der Parlamentarischen Gesellschaft werde die nächsten 24 Stunden nicht überleben …“
Der Plakatkünstler Klaus Staeck, bekannt durch seine provokanten Collagen zu politischen Themen, hatte ein Foto von Gefangenen der Pinochet-Diktatur im Fußballstadion von Santiago de Chile auf ein Plakat gedruckt. Darüber knallrot auf Schwarz die Überschrift: „Seit Chile wissen wir genauer, was die CDU von Demokratie hält.“
"Die Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter." Karikaturist Staeck mit seinen kritischen Plakaten 1976.© picture-alliance / dpa / Rolf Haid
Eine Anspielung auf ein Zitat des CDU-Abgeordneten Bruno Heck, der über Pinochets Massengefängnis gesagt hatte: „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.“
Staecks Ausstellung wurde, wie angekündigt, noch am gleichen Tag vom Vorstand der Parlamentarischen Gesellschaft geschlossen. Staecks Anwälte verklagten den Abgeordneten Jenninger, der das Plakat zerrissen hatte, wegen Sachbeschädigung. Staeck bekam Recht, Jenninger musste eine Entschädigung zahlen.
„Ich habe wirklich durch meine künstlerische Arbeit in Form von Plakaten hauptsächlich, nennen wir es ruhig mal ganz salopp, derart viel Ärger bekommen, aber, denen ich auch in Kauf genommen habe“, so Staeck rückblickend in einem Interview 2021.
„Ich bin ja von Hause aus Jurist und kannte schon die … die Grenzen auch. Aber Kern meiner satirischen Arbeit war immer einer, die sich an den Grenzen abarbeitete. Heinrich Böll hat mal gesagt: Satire – bezogen auf meine Arbeiten – Satire ist kein Himbeerwasser. Also, das war sehr schön beschrieben, und ich habe es auch mal gezählt, auf 41 Verfahren gebracht, im Laufe des Lebens.“
Der Jurist Klaus Staeck gewinnt alle Verfahren, die gegen ihn angestrengt werden. Aber er bezahlt dennoch für seine Provokationen gegenüber den Mächtigen. Nach Kampagnen vor allem von Seiten der CDU geht die Zahl seiner Ausstellungen Anfang der 1980er-Jahre merklich zurück und er erhält Drohbriefe.
„Aber ich hatte dabei immer ein ganz gutes Gefühl, doch etwas Notwendiges zu tun, nicht bloß Vernünftiges. Das behaupten viele, aber etwas Notwendiges zu tun, weil die Demokratie für mich ein ganz hoher Wert ist. Die Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter, die die Verfassung in Artikel fünf besonders schützt, und sage ich, da muss man Gebrauch davon machen, sonst verkümmert auch dieses Recht.“
Autorin und Autor: Lydia Jakobi und Tobias Barth
Mitarbeit: Lorenz Hoffmann
Es sprachen: Christian Gutowski, Lorenz Hoffmann und die AutorInnen.
Musik: Hans Werner Henze
Redaktion: Martin Hartwig