Kolumbien

Ökotourismus auf Drogenpfaden

Porto Inirida, Kolumbien
Porto Inirida, Kolumbien © picture-alliance / dpa / Mauricio Duenas Castaneda
Von Lukasz Tomaszewski · 10.07.2017
Von der No-Go-Area zum Touristenparadies? Wo sich einst FARC-Rebellen mit Regierungstruppen bekämpften, sollen jetzt Besucher die Natur genießen und zur "Friedensökonomie" beitragen. Wie realistisch ist das?
Kolumbien hat sich in den letzten paar Jahren sehr entwickelt. Es ist ein Land mit unheimlicher Flora und Fauna, einer großartigen Architektur. Das Land hat so viel zu bieten. Und es öffnet sich dem Tourismus: Im Jahr 2016 hatten wir eine Million Klicks auf unserer Kolumbien-Seite und die Verkaufszahlen des Reiseführers sind in den letzten Jahren rasant nach oben gegangen."
Daniel Houghton, CEO von Lonely-Planet, kam dieses Jahr erstmals persönlich nach Bogotá. Die Sicherheitslage im ehemaligen Krisenland hat sich dermaßen entspannt, dass der renommierte Reiseführer Kolumbien zur zweitwichtigsten Destination 2017 kürte.
Und tatsächlich: Die Reisebranche im Land wächst in allen Segmenten: 2016 gab es rund fünf Millionen Touristen. 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Und der Anstieg der ausländischen Investitionen ist um 700 Prozent gewachsen. Nach dem Erdöl ist das Tourismusgeschäft mittlerweile der zweitgrößte Devisenbringer des Landes.
"Wir haben ein ziemlich weites Territorium."
Erklärt Maria Claudia Lacouture, Ministerin für Handel, Industrie und Tourismus
"Manche Gegenden kennen nicht mal wir Kolumbianer. Wir arbeiten gerade in einem offenen Dialog mit den Gemeinschaften und Regionen. Zusammen bauen wir touristische Korridore auf um eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen die zum Wirtschaftsmotor dieser Gegenden werden kann. In allen Bundesstaaten gibt es seit dem Frieden neue Ziele. In Bolivar, Guaviare oder Meta. Der Frieden gibt Gleichberechtigung und der Frieden gibt wirtschaftliche Entwicklung."

Große Biodiversität und Höhlenmalereien

Von der No-Go-Area zum Naturparadies. Zusammen mit dem Nachbarn Brasilien gibt es hier die weltweit größte Biodiversität: Insgesamt 1900 Vogelarten, 80 davon leben nur hier: Das ist Weltspitze. Einer der touristischen Korridore ist die Gegend um das Städtchen San José im Bundesstaat Guaviare. Etwa 400 Kilometer südlich von der Hauptstadt Bogotá.
Die einmal täglich verkehrende Linienmaschine braucht 40 Minuten, um ins satt grüne, leicht gewellte Andenvorland an der Grenze zum Amazonasbecken zu gelangen. Wälder, Ackerland und Rinderzucht, wohin der Blick auch geht.
Die Region um die Provinzhauptstadt San José stand lange im Zentrum der Auseinandersetzungen. Die FARC-Guerilla bekämpfte sich mit rechten Paramilitärs und der Armee. Im Schatten des Konflikts wuchs Guaviare zu einem der wichtigsten Koka-Anbaugebiete heran.
Mit einem Pickup geht es über eine Schotterpiste zum Nationalpark "La Lindosa". Westlichster Zipfel des Berglandes von Guayana, das sich quer über den Kontinent bis zum Atlantik zieht. Das Highlight hier sind prähistorische Höhlenmalereien:
Ein junger Mann zeigt auf Steine, auf denen rote Malereien zu sehen sind.
Tourguide Arnoldo López erklärt die Höhlenmalereien im kolumbianischen Nationalpark "La Lindosa".© Lukasz Tomaszewski
"Mit den Felsmalereien haben Menschen ihre Nachrichten überliefert und von ihrer Lebensform erzählt."
Der 30-Jährige Arnoldo López hat vor zwei Jahren seine Ausbildung zum Tourguide abgeschlossen und arbeitet heute für ein französisches Reiseunternehmen. Bisher organisierten sie Individualtrips auf die Galapagosinseln oder den Machu Pichu. Nun also: Guaviare.
Arnoldo López führt die zehnköpfige Reisegruppe – eine der ersten überhaupt hier - über den engen Trampelpfad bergaufwärts.
"Erinnern wir uns, dass Guaviare mehrere Boom-Phasen erlebt hat. Zuerst war es der Kautschuk, dann der Verkauf von Rinderfellen. Danach kamen die Drogen: Marihuana, Schlafmohn und schließlich die Kokapflanze, die für lange Zeit blieb."
In den 1990er Jahren kamen die Guerilla und die Paramilitärs nach Guaviare. Mit ihnen folgten Terror, Angst und Einschüchterung. Militär und Polizei waren jahrzehntelang zu schwach oder zu korrupt, um die Bevölkerung zu schützen. Seit dem Friedensschluss im November vergangenen Jahres verändert sich hier langsam etwas.

Früher war es brenzlig in Guaviare

"Momentan befindet sich Guaviare in einer wirtschaftlichen Transformationsphase. Wir haben Wälder wieder aufgeforstet. Auf vielen Feldern, wo vorher illegale Pflanzen angebaut wurden, wachsen heute legale Nutzpflanzen. Ein schrittweiser Prozess. Jetzt wollen wir den Tourismus herbringen. Dank des ausgehandelten Friedens ist das möglich. Die Guerilla hat ihre Waffen niedergelegt, und Menschen von der ganzen Welt können jetzt als Ökotouristen hierher kommen."
Noch bis vor wenigen Monaten galt Guaviare als rechtsfreier Raum, den man lieber meidet. Erst als die FARC-Guerilleros sich in sogenannte Übergangszonen zurückzogen, wo sie ihre Waffen abgeben und nun ins zivile Leben wieder eingegliedert werden sollen, hat sich das Leben in Guaviare etwas normalisiert. Darauf beruht die Hoffnung der Menschen hier.
"Diesen Ort hier hätten wir vor kurzem nicht besuchen können. Heute können wir garantieren, dass wir eine super-gute Zeit haben. Wir sind knapp 25 Kilometer von der Provinzhauptstadt San José entfernt und wie ihr gemerkt habt, ist alles ruhig. Früher war es brenzlig, wenn man sich 15 Kilometer vom Stadtzentrum entfernte."
Nach einer Stunde Anstieg: geschafft! Von der weißen Kalkstein-Wand von Novo Tolima leuchten Hunderte tiefroter indigener Wandmalereien.
"Diese Höhlenmalereien wurden uns von Menschen hinterlassen, die durch diese Zone gezogen sind. Wir wissen nicht genau, wer sie gemalt hat und welche genaue Bedeutung sie haben. Aber nach unserer Beobachtung sind es wahrscheinlich Alltagsszenen. Es gibt Bilder von Zeremonien und Ritualen. Und wir sehen den Prozess der Kolonisierung. Es wurde eine Kohlenstoffanalyse durchgeführt, um das Alter zu bestimmen. Manche dieser Bilder sind über 1000 Jahre alt, andere deutlich jünger. Wir wissen aber nur wenig darüber, welche indigenen Stämme die Bilder geschaffen haben. Wenn es um die dunkelrote Farbe geht: Das ist ein Gemisch aus Blut, Kautschuk-Säften und oxidierenden Mineralien des Felsgesteins."
Megan Epler Wood ist Gründerin der "International Ecotourism Society". Seit 1990 fördert sie als weltweit erste NGO den nachhaltigen Tourismus in Schwellenländern. Heute lehrt sie an der Harvard-Extension-School. Epler Wood war 30 Jahre lang nicht mehr in Kolumbien.
"Ich denke Kolumbien ist ein roher Edelstein. Er braucht Schliff. Es wird Zeit brauchen, um sich selbst vorzubereiten auf den gewöhnlichen Touristen. Aber der tief faszinierte Tourist, der sich für Vögel interessiert oder für indigene Kultur, für denjenigen ist es ein einzigartiger Ort in diesem Augenblick."
Das kolumbianische Tourismusministerium hat Megan Epler Wood gebeten, sie bei Businessmodellen für den aufkommenden Ökotourismus zu beraten.

Bootsführer Antonio kennt alle Phasen des Bürgerkriegs

Am nächsten Tag geht es mit dem Motorboot über den Fluss Rio Guaviare. Ein Highlight für Hobby-Ornithologen und Naturfans. Über 300 Vogelarten sind hier beheimatet. In Lagunen leben Süßwasserdelfine. Direkt an den Ufern dösen Schildkröten und Kaimane. Kleine Affen springen durch Baumkronen.
Das Dorf Boca Raurales liegt rund 30 Kilometer westlich von San José: Ein Dutzend primitiver Hütten thront über der Flussbiegung.
An einem Fluss stehen ein paar Holzhütten, dahinter der grüne Dschungel.
Das kolumbianische Dorf Boca Raurales als Ausflugsziel für Natur-Touristen© Lukasz Tomaszewski
Bootsführer Antonio mit seiner Familie hat sich auf die neuen Zeiten bereits eingestellt: seine drei Töchter kochen Essen für die Touristen.
Seine Mutter Dona Carmen kam vor 45 Jahren aus der Region Antioquien ins dünnbesiedelte Guaviare. Rinderzucht und Forstwirtschaft gaben damals vielen mittellosen Familien Arbeit, erzählt sie. Carmen kann sich noch gut an den Koka-Boom erinnern:
"Ja, damals gab es hier im Dorf vier oder fünf Diskotheken. Das Dorf war sehr angesehen und es sind viele Leute aus dem Kokageschäft hier vorbeigekommen: Die Feldarbeiter, die Einkäufer. Ich hatte ein richtiges Restaurant. Ja, damals gab es viel Geld hier. Jetzt ist alles vorbei. Jetzt konzentrieren wir uns auf den Tourismus."
Jahrelang fuhr auch Sohn Antonio säckeweise Kokain den Rio Guaviare rauf und runter.
"Wenn man in dieser Situation ist, dann bleibt einem nur die Möglichkeit, die Dienstleistung auszuführen. Egal, wer der Auftraggeber ist oder wo er herkommt. Denn sie haben die Macht. Wenn sie mir gesagt haben: Tu dies und das, dann habe ich das gemacht. So ist das Geschäft im Transportwesen."
Antonios Familie hat alle Phasen des Bürgerkriegs in Guaviare an eigener Haut miterlebt. Nur Gastfreundschaft und Zurückhaltung haben sie vor Schlimmerem bewahrt, sagt Mutter Carmen. Die schlimmsten Erinnerungen verbinden die Bewohner von Boca Raurales mit den Paramilitärs.
Die rechten Todesschwadronen verübten im Bürgerkrieg drei Massaker im Dorf. Wer im Verdacht stand, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten, wurde ermordet, erzählt Antonio:
"Ja, ich war damals hier. Diese Dinge passierten spontan. Sie sind im Morgengrauen gekommen und als wir sie bemerkten, war es zu spät, um zu fliehen. Sie haben die Leute auf dem Platz versammelt. Und dann haben sie einzelne rausgesucht. Das waren Leute hier aus der Region, und sie hatten Namenslisten."
Botsführer Antonio steht auf seiner Veranda und blickt in die Kamera. Hinter ihm der Fluss.
Bootsführer Antonio auf seiner Veranda in Boca Raurales© Lukasz Tomaszewski
Die Täter von damals leben heute nach wie vor in Guaviare, sagt Antonio. Ihre Taten bleiben bisher ungesühnt. Als unterstes Glied in der Befehlskette genießen sie die 2006 in Kraft getretene Amnestie. Nur die Befehlshaber der Paramilitärs wurden bei der offiziellen Auflösung der Autodefensas Unidas de Colombia, kurz AUC, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Antonio würde diese Vergangenheit gerne vergessen. Man dürfe nicht an Groll und Verbitterung zerbrechen, sagt er. Seine Zukunft sieht er in der Tourismusindustrie:
"Wenn der Tourismus organisiert ist, dann haben auch wir was davon. Wir hatten hier schon Besuch von ausländischen Reisegruppen. Aus Spanien, den Niederlanden. Heute seid ihr hier. Das hilft, unsere Strukturen aufzubauen. Die Besuche müssen häufiger werden."

Unterstützung durch staatliche Organisationen

Hilfe erhalten Antonio und seine Familie von der staatlichen Organisation ECoAMEN. In Boca Raurales vertritt sie der 28-Jährige Politologe Pablo Garcia, den Antonio liebevoll Pablito nennt.
"Wir werden vom Staat finanziert, um den Ökotourismus hier mit den Bauern gemeinsam zu organisieren. Diese verwalten sich selbst: was sie den Touristen an Attraktionen anbieten, die Unterkunft, die Führungen, das Essen. Uns geht es aber nicht nur darum, sie finanziell zu unterstützen, sondern auch politisch und organisatorisch. Wir sorgen für die stabile Struktur und verteidigen die Bauern, wenn sie bedroht werden – wie zum Beispiel durch illegalen Ressourcenabbau."
Die Organisation ECoAMEM sorgt für elementare staatliche Einrichtungen im Gesundheits- und Bildungswesen, Zugang zu Straßen, Telekommunikation und Energie. Die geschaffenen Jobs generieren wiederum Steuereinnahmen und helfen damit, den Friedensprozess zu stabilisieren.
Die Theorie klingt nach Win-Win-Situation: Die Praxis sieht nicht ganz so einfach aus. Denn dort, wo sich die FARC-Guerilla zurückgezogen hat, haben oft neue Gruppen das Machtvakuum genutzt, erklärt Pablo Garcia
"Die paramilitärischen Strukturen sind noch nicht aufgelöst. Kriminelle Banden operieren weiterhin und nennen sich jetzt BACRIM. Im Departament del Guaviare gibt es heute immer noch die meisten Kokapflanzen. Die BACRIM sind eine Bedrohung und haben eine rechtsextreme Ideologie. Alles, was gemeinschaftlich ist und Ansprüche an das Establishment stellt, sehen sie als militärisches Ziel."

Der Staat kann keine Sicherheit garantieren

In Guaviare bröckelt die Sicherheitslage wieder. Im April verübte die abtrünnige FARC-Einheit Frente Primero einen Anschlag auf einen Militärkonvoi, bei dem ein Soldat starb. Im Mai wurde ein UN-Mitarbeiter im Bundesstaat Guaviare entführt, der zu illegalem Kokaanbau forschte.
Und am 17. Juni verübten Unbekannte ein Attentat mit einer Handgranate auf ein Polizeiauto mitten in der Provinzhauptstadt San José. Verletzt wurden zwei Passanten und der Polizist.
Ein Flug mit der Propellermaschine über den größten kolumbianischen Nationalpark. Der Chiribiquete-Park erstreckt sich am Äquator über die beiden Departements Guaviare und Caqueta. Harvard-Dozentin Megan Epler Wood ist von dem Überflug fasziniert – und sprachlos:
"Jetzt kommen die Klippen! Diese Formationen heißen Tepuis. Sie bilden einzigartige Ökosysteme, weil sie durch ihre Klippen getrennt sind. Oben hast du andere Ökosysteme als unten und untereinander sind sie auch unterschiedlich. Es ist Teil des Guayana-Berglands von Venezuela bis hierher. Für die indigenen Stämme war es der heiligste Ort. Sie kamen für die Höhlenmalereien und Rituale her. Vielleicht gibt es hier die höchste Dichte von Höhlenmalereien auf der Welt."
Doch so spektakulär die Naturschätze Kolumbiens auch sein mögen: Der Aufbau der touristischen Infrastruktur in den ehemaligen Bürgerkriegsregionen wird noch lange brauchen. Denn für eine nachhaltige Entwicklung des Sektors müsste der Staat sein Gewaltmonopol flächendeckend garantieren. Und das kann er nicht.
Die Prognosen der Experten besagen: Drogenanbau wird in den ländlichen Enklaven in den nächsten Jahren weiterhin die entscheidende ökonomische Grundlage bleiben.
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